Saalschlachten, Handys und Hustkonzerte: Wie Zuschauer im Theater stören

„Les retardataires“: Zuspätkommende verärgern das restliche Publikum auf einem Ölbild von Albert Guillaume.
„Les retardataires“: Zuspätkommende verärgern das restliche Publikum auf einem Ölbild von Albert Guillaume.(c) Albert Guillaume
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Dass während einer Vorstellung Stühle fliegen, passiert heute kaum noch. Dafür wird im Publikum getratscht, geleuchtet, gehustet und manchmal geschnarcht. Was Theaterbesuchern so alles einfällt – und wie Schauspieler damit umgehen.

Isidor Kastan hatte genau geplant, wie er die Theatervorstellung stören würde. Bis zum fünften Akt würde er warten. Das Stück, das ihn so erzürnte, hatte er schon vor der Aufführung gelesen: Die Buchausgabe von Gerhard Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ war wenige Monate zuvor erschienen, die darin beschriebenen Gräuel (Alkoholismus, Inzest, soziales Elend und Suizid) galten vielen der schockierten Leser als unaufführbar. Die Freie Bühne in Berlin, ein Verein, der durch geschlossene Theatervorstellungen der damaligen Zensur entgehen konnte, wagte die Uraufführung im Oktober 1889 dennoch.

Die Zuschauer pfiffen und höhnten und trampelten, wie ein Augenzeuge später berichten würde. Isidor Kastan, Arzt und Journalist, machte sich bereit für seinen Auftritt aus dem Publikum. Im fünften Akt sollte, der Regieanweisung im Stücktext zufolge, „deutlich das Wimmern der Wöchnerin“ zu hören sein. Wie unsittlich – das Geheul einer Gebärenden im Theater! Dass der Regisseur die Stelle, um eben Tumulte zu vermeiden, gestrichen hatte, mochte Kastan im Eifer der Entrüstung entgangen sein: An der entsprechenden Stelle schwang er eine mitgebrachte Geburtszange durch die Luft und bot der (stummen) Schwangeren lautstark seine Dienste an. Das Publikum tobte daraufhin so laut, dass die Schauspieler nur mühsam weiterspielen konnten.

"Das Theater glich einem Irrenhaus, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraum!"

Für den 27-jährigen Hauptmann bedeutete die Aufführung seinen Durchbruch als Dramatiker – trotz oder gerade wegen der heftigen Publikumsreaktionen. Dass Zuschauer eine Theatervorstellung stören, hat eine lange Tradition. So manche Uraufführung wurde von Zwischenrufen, fliegenden Gegenständen, sogar Saalschlachten begleitet. Oft aus Empörung, manchmal auch wegen des revolutionären Potenzials eines Stückes: „Das Theater glich einem Irrenhaus“, soll ein Zuschauer 1782 nach dem Besuch der Uraufführung von Friedrich Schillers „Räubern“ in Mannheim geschrieben haben, „rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraum! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Tür. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbricht.“ Schiller, der die Hysterie im Publikum von einer Loge aus beobachtet hatte, wurde auf einen Schlag berühmt.

Ohrfeigen im Publikum

Auch in den Wiener Zuschauerräumen spielten sich immer wieder Szenen der Erregung ab: „So was gehört nicht ins Burgtheater!“ und „Pfui!“ riefen etwa Zuschauer bei der Premiere von „Hargudl am Bach“ von Hans Müller-Einigen 1909. Der Autor des Lustspiels hatte es gewagt, sich über das modische Gehabe des gehobenen Publikums lustig zu machen.

Als Oskar Kokoschka im selben Jahr bei der internationalen Kunstschau in Wien sein zweites Drama „Mörder, Hoffnung der Frauen“ präsentierte, wurde gejohlt, gerauft, sogar Stühle flogen. Die Polizei musste eingreifen, Kokoschka erhielt eine Verwarnung wegen öffentlicher Ruhestörung. Skandale gab es auch im Volkstheater, etwa 1948 bei der österreichischen Erstaufführung von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ oder 1971 bei der Doppelpremiere von Peter Turrinis „Rozznjogd“ und Wilhelm Pevnys „Sprintorgasmik“: Letztere Aufführung soll das Publikum so aufgeregt haben, dass es Berichten zufolge „scharenweise das Theater verließ oder über die Sitzreihen stieg, um sich gegenseitig zu ohrfeigen“. Auch von Schreiduellen wurde berichtet.

Gelangweilte Theaterbesucher in der Pause
Gelangweilte Theaterbesucher in der Pause(c) Albert Guillaume

Stören aus Teilnahmslosigkeit

In letzter Zeit sind Unmutsbekundungen während eines Stückes rarer geworden. Vor drei Jahren empörten sich Teile des Festwochen-Publikums noch mit Zwischenrufen über die Kinder, die in einer Performance von Romeo Castelucci Handgranaten auf ein Jesus-Bild warfen, doch solche Reaktionen sind die Ausnahme geworden. Buhs hört man, wenn überhaupt, am Ende, während des Schlussapplauses. Wen das Gesehene allzu sehr erzürnt hat, der hat da meist bereits den Saal verlassen. Ist das Publikum höflicher geworden oder kann uns einfach nicht mehr so viel aufregen? Haben wir schon alles gesehen, was uns schockieren könnte? Oder haben die sozialen Medien das Theater als Ort der öffentlichen erregten Debatte abgelöst?

Wenn heute jemand eine Theatervorstellung stört, so hat das jedenfalls meist mehr mit Teilnahmslosigkeit als mit Protest zu tun: Schauspieler berichten von Zuschauern (nicht nur, aber auch Schüler), die ein Stück nicht interessiert und die infolgedessen tratschen oder sich ihrem Smartphone widmen. Kaum einem Schauspieler sind solche Störungen nicht untergekommen. „Mir ist auch schon passiert, dass eine Dame ans Telefon gegangen ist, mitten in der Vorstellung!“, berichtet Claudia Sabitzer vom Volkstheater. „Das war eine elegante ältere Dame, das hat sie überhaupt nicht geniert.“

Laser gegen Handynutzer

Als störend empfinden Schauspieler nicht nur das Klingeln, auch das Vibrieren eines Handys oder das bläuliche Licht, das ein Display ausstrahlt. Die Strategien dagegen sind vielfältig: In New York ist die Handynutzung im Theater gesetzlich verboten und wird mit 50 Dollar Strafe geahndet. In China weisen Saalordner Handybenutzer im Publikum mit Laserpointern zurecht. Französische Theaterbetreiber dürfen gar Störsender aufstellen.

„Es gibt übrigens auch Erregungshuster – die husten, weil sie so bewegt sind vom Bühnengeschehen. Manche husten, weil sie sonst weinen müssten. Manche husten, weil sie das Lachen verlernt haben."

Verständlicher sind Störungen, die von einem Kratzen im Hals evoziert werden – erwünscht ist Husten im Publikum dennoch nicht. Der Bariton Thomas Hampson hat anhand seiner Erfahrungen eine Typologie des Hustens entwickelt – er unterscheidet etwa zwischen dem kurzen Entlastungshüsteln an leisen Stellen, dem explosiven Stoßhusten und dem ansteckenden Räuspern, das über ganze Sitzreihen übertragen werden kann.

Im Theater
Im Theater(c) Albert Guillaume

In Gabriel Baryllis Roman „Butterbrot“ unterbricht ein Schauspieler eine Vorstellung, weil das Husten der Zuschauer ihn so verärgert. Das Josefstadt-Ensemblemitglied Michael Dangl hat darauf basierend sein Buch „Rampenflucht“ geschrieben. „Bitte husten Sie nur ein bisschen weniger, denn wissen Sie, es stört uns wirklich da oben, wir sind nicht diese kleinen plappernden Männchen im Fernseher, die Sie lauter und leiser stellen können“, heißt es da. Dangl selbst stören Huster heute weniger als früher, sagt er. „Es gibt übrigens auch Erregungshuster – die husten, weil sie so bewegt sind vom Bühnengeschehen. Manche husten, weil sie sonst weinen müssten. Manche husten, weil sie das Lachen verlernt haben. Gegen chronische Durchhuster habe ich auch schon zurückgehustet. Das ist die Notbremse, aber es wirkt.“

Schlafen im Theater

Andere schlafen in der Vorstellung ein, was von mehr oder weniger lauten Schnarchgeräuschen begleitet sein kann. „Als junge Schauspielerin glaubte ich, alle warten den ganzen Tag gespannt darauf, ins Theater zu gehen“, sagt Schauspielerin Mercedes Echerer. „Ich habe lernen müssen: Nein, sie kommen nach einem oft harten Arbeitstag ins Theater, sie sind vielleicht müde, bei aller Vorfreude, die sie haben.“ Sie sei nicht böse, wenn sich ein Zuschauer während ihres Spiels nicht mehr wachhalten kann: „Er tut mir leid, er hat ja freiwillig eine Karte gekauft und ist nicht gezwungen worden, ins Theater zu gehen. Entweder waren wir auf der Bühne nicht überzeugend, oder sein Tag war schon sehr lang.“ Die Frage für sie sei in so einer Situation, wie sie einen Eingeschlafenen auf humorvollem Weg wecken könne, ohne ihn zu kränken.

Stören erlaubt bei den Festwochen

Ausdrücklich erlaubt sind „Störungen“ aller Art in Jan Fabres „Mount Olympus“, das im Vorjahr in Berlin seine Uraufführung hatte und heuer bei den Wiener Festspielen zu sehen sein wird. Das Publikum darf während dieses 24 Stunden langen Theatermarathons hinein- und hinausgehen, schlafen, sogar getwittert wird aus dem Saal. Stört das die Schauspieler nicht? „Nein. Das sind die Spielregeln, die wir eingegangen sind“, sagt Gustav Koenigs, einer der rund 30 Darsteller. „Wir haben gelernt, damit umzugehen, wenn auch mal eine Tür knallt. Die Erfahrung hilft. Man weiß auch, zu welchen Zeiten es größere Ein- und Ausmärsche gibt. Das Stören bekommt seinen eigenen Rhythmus.“

Tratschen und Rascheln, Handy-lichter, Husten und Schnarchen: All die Dinge, die Schauspieler oft aus dem Konzept bringen, stören Koenigs nicht. „Vielleicht liegt es auch daran: Nach einigen Stunden hat man nicht die Kraft, sich stören zu lassen“, meint er. Oder es liegt daran, dass die Hemmschwelle, das Theater einfach zu verlassen, für Unzufriedene niedriger ist, wenn die Fluktuation des Publikums ohnehin ermuntert wird. Grob gestört habe bisher jedenfalls niemand, sagt Koenigs. „Wir haben keine Menschen im Zuschauerraum, die dem Stück respektlos entgegentreten würden. Die haben alle einen gewissen theatralen Anstand.“

Was stört? Schauspieler erzählen

Mercedes Echerer
Mercedes EchererClemens Fabry

Mercedes Echerer, Bühnen- und Filmschauspielerin

Handys und Hörgeräte. Anfang der 1990er-Jahre, Mercedes Echerer spielte gerade in „Der Schwan“ in den Kammerspielen, hörte man auf einmal ein Piepsgeräusch im Saal. „Ich hab mir gedacht: Um Gottes willen, was ist das? Von einem Kollegen wurde ich aufgeklärt: Dieses Geräusch ertönt, sobald Menschen mit Hörgeräten diese lauter stellen, bis sie überdreht sind. Der Kollege riet mir: „Pfeif auf die inszenierten leisen Töne und spricht lauter!“ 1998 trat sie in Salzburg im Solostück „Karriere“ auf, das in den 20er-Jahren spielt – damals gab es keine Handys. Als im Publikum eines klingelte, musste Echerer improvisieren, um nicht aus der Rolle zu fallen. „Ich sagte: Es scheint, wir haben Besuch aus der Zukunft! Die Leute haben geschmunzelt, aber die betroffene Dame hat noch immer nicht gemerkt, dass es ihr Handy ist. Dann ist ein paar Sitze nebenan ein Herr aufgestanden und hat mit einem charmanten Lächeln gesagt: Gnädige Frau, drehen S' das Handy ab, oder ich dreh Ihnen was ab!"

Claudia Sabitzer
Claudia Sabitzerwww.lupispuma.com / Volkstheater

Claudia Sabitzer, Volkstheater

Husten und Herzinfarkt. Bevor Claudia Sabitzer 2005 ans Volkstheater kam, war sie Ensemblemitglied am Nationaltheater Mannheim. Während einer Vorstellung von „Gestochen scharfe Polaroids“ ertönte ein Röcheln aus dem Zuschauerraum. „Wir wussten nicht, ist das ein technisches Problem? Dann haben wir mitgekriegt, da kippt wer vom Stuhl“, erzählt sie. Ein Herr im Publikum erlitt gerade einen Herzinfarkt. Die Vorstellung wurde abgebrochen, die Lichter gingen an, die Rettung kam. „Beim Hinaustragen hat er noch in Mannheimer Dialekt gerufen: ,Tschuldigung, spielt's weiter!‘“ Das tat das Ensemble dann auch. Der Herr habe sich bald wieder erholt. Ebenfalls in Mannheim erlebte Sabitzer ein Hustkonzert im Publikum. Als das Stück unterbrochen und verkündet wurde, die Leute möchten sich bitte draußen aushusten, sei Totenstille eingekehrt. Niemand habe gewagt, den Saal zu verlassen. „Ich weiß nicht, ob da nicht ein paar Leute erstickt sind im Publikum.“

Thomas Frank
Thomas Frankwww.lupispuma.com / Volkstheater

Thomas Frank , Volkstheater

Störenfried. „Am meisten stört das Reden, oder wenn man merkt, dass sich das Publikum nicht dafür interessiert, was auf der Bühne los ist“, sagt Thomas Frank, der mit dieser Saison vom Grazer Schauspielhaus ans Volkstheater gewechselt ist. Er erinnert sich an eine Vorstellung der „Nibelungen“ vor Schulklassen in Graz, die wegen eines Störenfrieds unterbrochen werden musste. Der Hauptdarsteller habe diesen auf die Bühne geholt, um Applaus gebeten und seine Alkoholfahne kommentiert – danach blieb er ruhig. „Wir Kollegen bilden in solchen Situationen eine Einheit, die zusammenhält.“

Michael Dangl
Michael DanglJan Frankl

Michael Dangl , Theater in der Josefstadt

Verabredung mit dem Publikum. „Was wirklich irritierend ist“, sagt Josefstadt-Schauspieler Michael Dangl: „Wenn Zuschauer aus der ersten Reihe ihre Füße auf die Bühne legen – oder ihre Handtaschen. Beides habe ich schon sanft weggekickt.“ Vibrierende Handys findet er unerträglich („Das klingt wie eine Generalversammlung hungriger Mägen“), auch Zuspätkommen oder vorzeitiges Gehen störe. Wenn jemand fotografiert, verständigt Dangl die Abendregie. „Wir leben auf der Bühne von einer Fiktion, die spielerisch als wirklich angenommen wird. Das ist die Verabredung der Theatermacher mit dem Publikum. Jede Störung gefährdet diese Fiktion.“

Anmerkung: In einer früheren Version des Artikels war fälschlicherweise zu lesen, dass die Premiere von "Sprintorgasmik" 1971 im Volkstheater abgebrochen werden musste. Das Stück wurde aber trotz der Tumulte zu Ende gespielt. Wir bedauern den Fehler.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.04.2016)

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