Amoklauf der Amour fou: Perversion, Religion und Rebellion

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Ein extrem unterhaltsames Epos der entfesselten Emotion: der japanische Film „Love Exposure“ von Sion Sono. Ab Freitag im Top.

Um eine vage Vorstellung von der Atemlosigkeit des japanischen Films Love Exposure zu bekommen, empfiehlt es sich, beim Lesen folgenderInhaltsangabe die Luft anzuhalten: Nachdem die Mutter des kleinen Yu stirbt, wird sein Vater zum Gottesmann. Doch unter seinen Schäfchen ist eine Frau, die ihn mit hysterischen Liebesbekundungen vom rechten Weg abbringt – und dann ebenso ruck, zuck mit schweren Gewissenskonflikten sitzen lässt. Das stürzt den Priester in einer Phase verbitterter Rebellion (zufälliger Predigtauszug: „und die Kirche wird auf ewig verlassen bleiben...“). Schließlich kompensiert er seine Schmach, indem er seinen zum folgsamen Teenager herangereiften Sohn Yu (trotz sichtlichen Sündenmangels) zu exzessiver Beichte nötigt. Dessen labile Psyche leidet. Gott sei Dank kommt da die Einblendung „Noch 365 Tage bis zum Wunder!“ Bis dahin ist übrigens eine Viertelstunde vergangen – das ist ungefähr ein Fünfzehntel der Laufzeit dieses Films.

Die extrem unterhaltsamen vier Stunden Spieldauer von Love Exposure bleiben so prallvoll mit Haken schlagenden Handlungsfetzen, widersprüchlichem Wahnwitz und entfesselter Emotion. Epische Musikschleifen – von Ravels Bolero zu Elektronik – sorgen für ein rhythmisches Rückgrat, während es inhaltlich immer (noch!) wilder wird: Yu begibt sich auf den Weg der Sünde, um die Bindung zum Vater durch beeindruckende Beichtgeständnisse zu vertiefen. Erfolg ist ihm dabei allerdings nur beim Sündigen beschieden: Yu wird ein Meister in der Kunst, heimlich Fotos unter den Röcken von Mädchen zu schießen, mittels müheloser akrobatischer Verrenkungen, die den Eindruck eines meschuggenen Musicals erwecken. (Das atemberaubende Filmtempo entsteht auch durch unbekümmerte Absorption der Genres von Anime bis Teenagerkomödie.)

Das Laster führt zur Liebe

Das Laster führt zur Liebe: Yu verfällt der militanten Männerhasserin Yoko, die würde die Gefühle auch erwidern – nur war Yu aus komplizierten Gründen beim Kennenlernen als weibliche Kultkino-Ikone Sasori verkleidet, weshalb die amourösen Komplikationen explodieren. Eine Sektenführerin und Nebenbei-Drogenhändlerin zieht dazu die Fäden, macht Love Exposure zur verqueren Dreiecksgeschichte. Auch thematisch: Religion, Perversion und Rebellion treiben die Hauptfiguren – bis in den Wahnsinn, ganz wörtlich. Die Tragödie der Liebe zwischen Yu und Yoko ist, dass sie nie auf der gleichen Ebene der Verrücktheit sind. Das wird zwar trotz allen Einfallsreichtums nach zweieinhalb, drei Stunden auch irgendwann zermürbend – doch umso überwältigender ist dafür das Finale, ein Amoklauf der Amour fou, bei dem kein Auge trocken bleibt.

Der Regisseur Sion Sono ist einer der eigenwilligsten Einzelgänger von Japans Kino: Nach wechselhaften Jahren hat er mit Love Exposure sein magnum opus geschaffen, unerwartet rührend und profund, aber doch charakteristisch respektlos: Allein die Pubertät als psychosexuelles Minenfeld inspiriert ihn zu zwerchfellerschütternd buchstäblichen Bildern von Dauererektion und Marienkomplex. Aber so sehr SionSono seine surrealen Späße lieben mag, unter der sprühenden Oberfläche ist seine romantische Komödie eine ernste Sache: Er nimmt den Titel beim Wort und setzt sich, seine Figuren und seine Zuseher der unbedingten Liebe aus. Auf Gedeih und Verderb.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.08.2009)

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