Im Dunkeln: Er tanzt nicht, es tanzt ihn

Untitled (2014)
Untitled (2014)Jamie North/Kaldor Public Art Projects
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Xavier Le Roy war auf der Bühne des Akademietheaters – und hinterließ Rätsel und Faszination.

Wäre Samuel Beckett nicht 1989 gestorben, sondern hätte sich stattdessen mit geheimen molekularbiologischen Mitteln radikal verjüngt und wäre dem reduktionistischen Programm seines späten Theaters trotzig treu geblieben . . .

Ja, dann wäre er heute 110. Und sähe aus wie der promovierte Molekularbiologe, Tänzer und Choreograf Xavier Le Roy. Und schriebe Stücke wie das, das Le Roy am Donnerstag im Wiener Akademietheater aufführte. Nein, es hieß nicht Stück und auch nicht Spiel, aber immerhin „Untitled“, und es bestand aus drei Teilen, die sich vielleicht ungefähr wie folgt nacherzählen lassen.

1) Le Roy steht auf der Bühne, sieht verloren drein und erklärt nach einer kleinen Vorrede, er habe sein Gedächtnis verloren, er wisse nicht, wie er die geplante Vorlesung halten solle. Schweigen. Fragen aus dem Publikum. Hilfsangebote. „Was ist Ihre letzte Erinnerung?“ „Ich erinnere mich nicht daran.“ Schweigen. Er liest aus dem Ankündigungstext: „Die Choreografie wurde als Versuch, der Identität und Repräsentation zu entkommen, gelesen.“ Und so weiter. Wieder Schweigen. Wieder Fragen aus dem Publikum. Antworten. Wieder Schweigen. Leise Unruhe. Gehen wir? Alle bleiben sitzen. Es wird unangenehm. Wieder Fragen. Keine Auflösung.

2) Es ist fast völlig dunkel auf der Bühne. Nichts passiert. Oder? Surrt da etwas? Liegt da etwas? Die Augen gewöhnen sich ans schwache Licht. Ganz allmählich nimmt man drei Objekte auf der Bühne schemenhaft wahr. Müllberge? Kleiderhaufen? Zusammengekauerte Menschen? Eine der Figuren beginnt ruckartig zu tanzen, zu Béla Bartóks – nach all dem Warten, all der Stille schmerzhaft intensiver – Musik für Streicher, Perkussion und Celesta. Während es noch heller wird, versteht man allmählich, dass sie an Fäden hängt, die von einer zweiten, liegenden Figur gezogen werden. Sie tanzt nicht, sie wird getanzt. Und was ist mit dem dritten Objekt? Keine Auflösung.

3) Le Roy, etwas anders gekleidet als im ersten Teil, liegt auf dem Boden und beginnt zu zucken, erst mit dem Fuß, dann mit der Hand, dann mit dem ganzen Körper. Man sieht keine Fäden, aber es ist klar: Er tanzt nicht, es tanzt ihn. Dann steht er auf, windet sich weiter und beginnt gurgelnd zu schreien, lang anhaltend. Ende. Applaus.

„So ist das eben im Theater“

Noch Fragen? Viele. Was war mit dem dritten Objekt? Es war eine Puppe, die nur als Zwischenglied diente, über sie wurden die Fäden geleitet, mit denen die zweite Figur die erste zog. Auch diese war eine Puppe. Das hatte der Rezensent nicht verstanden. Oder nur nicht gesehen?

Was hat der Rezensent eigentlich verstanden? „Sie in den vorderen Reihen und Sie in den hinteren, Sie werden nicht alle dasselbe sehen“, hatte Le Roy in seiner Vorrede gesagt: „That's how it is in a theatre.“

So ist das. „Im Schweigen weiß man nicht“, schrieb Samuel Beckett im „Namenlosen“, bevor er seine Stücke schrieb.

„Untitled“ von Xavier Le Roy: ein kluges, rätselhaftes, achtmalkluges Stück.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.07.2016)

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