„Niemandsland“: Schwerer Rucksack voll Familiengeschichten

Niemandsland
Niemandsland(c) Julius Feldmeier, Jan Thümer © www.lupispuma.com / Schauspielhaus Graz
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Ein Vergewaltigungsopfer, ein Journalist, ein Anwalt: In „Niemandsland“ erzählt Yael Ronen vom Krieg und seinen Folgen, mitten unter uns. Die Aufführung ist hochaktuell, aber auch etwas eindimensional. Das Ensemble überzeugt im Volkstheater.

Jasmin Avissar ist Israeli, Osama Zatar Palästinenser. Ihre Geschichte ist wahr. Sie haben geheiratet, konnten aber in ihrer Heimat nicht leben. Sie galt als „Araberliebchen“, auch er wurde als Verräter an seinem Volk angesehen. Beide gelangten über Berlin nach Wien, wo sie sich jahrelang mit Asylbehörden herumschlugen, schließlich aber als Künstler Fuß fassen konnten und eine Tochter bekamen. Diese antwortet im Programmheft auf die Frage, woher sie komme, kurz und mürrisch: „Wien. Aber jetzt lasst mich in Ruhe spielen!“ So schnell geht das.

Aber nicht wirklich. Denn die Familiengeschichte ist wie ein Rucksack, man wird sie nicht los. Yael Ronen zeigt nach „Hakoah Wien“ und „Lost and Found“ eine weitere ihrer teils schockierenden, teils komischen „Alltagsgeschichten“: „Niemandsland“. Auf einer rohen Holzkonstruktion spielen die buchstäblich aus dem Leben gegriffenen Szenen. Lejla (Seyneb Saleh) ist auf dem Sprung nach Palästina, ihre Mutter Azra (Birgit Stöger) wurde in Bosnien vergewaltigt und schwanger. Lejla weiß nichts von der Katastrophe – aus der sie entstanden ist – sie kann aber kaum übersehen, dass mit ihrer Mutter Gravierendes nicht stimmt. Trotzdem hält sie an ihrem Plan fest, als politische Aktivistin in den Nahen Osten zu gehen.

Syrische Bloggerin, Kriegsverbrechen

Lejla bittet ihren Universitätslehrer Jörg Thalmann (Knut Berger), sich um die Mama zu kümmern. Thalmann besucht Azra, er will sie trösten, gleichzeitig aber auch beforschen, denn er ist ein Spezialist für „Menschliche Wahrnehmung und soziale Realität“. Lejlas Freund, Fabian Feldkirch (Jan Thümer), ist Kriegsreporter, wegen psychischer Probleme wurde er vorübergehend in die Kulturredaktion versetzt, dort hält er es aber nicht aus und will nach Syrien.

Anwalt Lukas Nachmann (Julius Feldmeier) ist mit seinen spektakulären Flüchtlingsfällen häufig im TV, speziell mit einer lesbischen Bloggerin, die aus Syrien berichtete, inzwischen aber verschwunden ist. Hat sie überhaupt existiert? Miloš Dragović (Sebastian Klein), Schauspieler aus Serbien, erfährt, dass sein Vater in Belgrad wegen Kriegsverbrechen verhaftet wurde. Liegt hier eine Verwechslung vor? Anwalt Lachmann ist überfordert, speziell, als ihm auch noch Jasmin (Jasmin Avissar) nachläuft und ihn um Hilfe beim Transfer ihres Mannes Osama (Osama Zatar) nach Europa bittet.

Die Dialoge sind schlagfertig, flott und ungeachtet des ernsten Themas manchmal witzig. Die Schauspieler sind engagiert, einige großartig: Birgit Stöger beherrscht zwar weder den Dialekt der Einwanderer aus den Oststaaten, noch ist sie der Typus Putzfrau bzw. Kammerjägerin, damit verdient die Bosnierin Azra ihr Geld. Aber Stöger wirkt dennoch unglaublich authentisch und erschütternd als verstörte Mutter, die trotz völligen Verlusts von Vertrauen in die Welt und die Menschen ihre Tochter liebt. Jan Thümer als Journalist erleidet eine Identitätskrise, einerseits ist er ein Frauenheld und Draufgänger, andererseits ist er, wie das „echten Kerlen“ oft passiert, von seinen Erlebnissen überrollt worden. Als Lejla bei ihm, dem älteren Mann, Trost sucht, weist er sie ab.

Naive politische Botschaften

„Niemandsland“ handelt von Grenzräumen, etwa zwischen Krieg führenden Staaten; aber auch vom Vakuum, das sich zwischen Menschen auftut, die sich nicht mehr verständigen können oder wollen bzw. die in ihren eigenen Grenzen gefangen sind. Ronen, 1976 in Jerusalem geboren, lebt heute in Berlin. Sie hat „Niemandsland“, das bereits in Graz zu sehen war, aktualisiert, jüngste Ereignisse in Syrien, das grausame Bombardement von Aleppo hineingepackt. „Niemandsland“ ist hochaktuell. Doch: Etwas stimmt nicht. Liegt es am Schematischen dieses engagierten Theaters? Das Patchwork wirkt teilweise allzu bekannt und teilweise konstruiert, die unterschiedlichen Schauplätze sind schlecht vernäht, die politische Botschaft wirkt etwas brachial und naiv. Am Schluss gibt es einen spröden Frontalvortrag über Traumata.

Am besten gelungen ist die einzige Figur, die Doppelbödigkeit und Zynismus zeigen darf: der eitle Anwalt, der nur mit seiner Karriere beschäftigt ist und seine verzweifelten Klienten mit der Frage belästigt, ob seine eben gerichteten Zähne schön sitzen.

Wer ist schuld an der Flüchtlingskrise? Für viele Künstler ist klar: Europa. Sie machen es sich einfach. Auf der Bühne sieht man meist Opfer. Das Mitleid mit ihnen ist quasi programmiert. Der politische oder wirtschaftliche Machtkampf kommt nicht vor. Von den Drahtziehern dahinter ist nicht die Rede, aber auch nicht von den Profiteuren, Menschenhändlern zum Beispiel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2016)

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