Tanz/Performance

Die taumelnde Gegenwart: Ein Tanz der Bestien

Alain Platels "nicht schlafen"
Alain Platels "nicht schlafen"Chris Van der Burght
  • Drucken

Alain Platels „nicht schlafen“ gleicht einem brutalen, archaischen Ritual. Der groteske Humor hilft nur oberflächlich. Heute Abend im Volkstheater.

Da stehen sie und bestaunen diesen Altar der Vergänglichkeit: Zwei ausgestopfte Pferde liegen im schmalen Lichtkegel übereinander. Alle scheinen gekommen, um diese seltsame Skulptur zu bestaunen, den Tieren (oder dem Tod?) die Reverenz zu erweisen – auf dem Boden hockend wie im Tempel oder stramm stehend im militärisch anmutenden Mantel wie bei der Garde. Gleich werden sich die Akteure aufeinander stürzen wie Bestien, werden einander die Kleider vom Leib reißen wie Vergewaltiger, werden die anderen schlagen, bespucken, anbrüllen und treten. Und während die Gewandfetzen ins Publikum fliegen, fragt man sich: Sind wir wirklich so?

Alain Platel schont in „nicht schlafen/non dormire“ das Publikum genauso wenig wie die Darsteller: Pflaster, Tapes und rote Knie zeugen von der Kompromisslosigkeit des flämischen Choreografen und seiner Compagnie Les Ballets C de la B. Zu Glockenläuten und glucksenden Lauten, zu Symphonien Gustav Mahlers und afrikanischen Gesängen (Musik: Steven Prengels) vollführen sie einen „Tanz auf Leben und Tod“, der erschreckt.

"Sehe Parallelen zur Zeit, in der Mahler lebte"

Aus welchen psychologischen Tiefen kommt diese Aggression? Und: Wen beten die Darsteller an, wenn sie mit himmelwärts geöffneten Armen und erhobenem Blick dastehen, als würden sie auf den Einsatz des Priesters für das Opferritual harren? Ein Heilsbringer ist hier jedenfalls nicht in Sicht. Oder tun sie das, weil sie vor jemandem oder etwas Angst haben?
Inspirieren ließ sich Platel von Philipp Bloms Buch „Der taumelnde Kontinent“ über die gesellschaftlichen Umbrüche vor dem Ersten Weltkrieg. Und von Mahlers Musik: „Was ich in den vergangenen Tagen über Donald Trump oder Erdoğan gelesen habe, über den Terror des IS, über den Brexit und den Nationalismus überall in Europa, zeigt beängstigend viele Parallelen mit der Zeit, in der Mahler lebte“, sagt Platel.

Wie lässt sich das ertragen? Nur mit Humor! Immer wieder kippt das archaische, animalische, machistische Treiben auf der Bühne ins Groteske. Einmal sitzt die einzige Tänzerin, die sich an diesem Abend gegen acht Männer behaupten muss, ganz vorn am Bühnenrand und zwinkert dem Publikum aufmunternd zu, als wollte sie sagen: Hey, nehmt das doch bitte nicht ganz ernst! Weiter hinten liegen sie aber noch, die toten Pferde, und erinnern an die Allgegenwart von Gewalt und Tod. Was bleibt, ist eine innere Unruhe.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.