Akademietheater: Wie bei Hempels unterm Sofa

TRACY LETTS EINE FAMILIE
TRACY LETTS EINE FAMILIE(c) APA/ROBERT JAEGER (ROBERT JAEGER)
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Inzest, Selbstmord, Missbrauch, Sucht, Gewalt - Tracy Letts "Eine Familie", eine fette Soap, lebt in Alvis Hermanis' bedächtiger Regie von feinsten Schauspielern, die aber nicht deutlich sprechen dürfen.

Inzest, Selbstmord, Missbrauch, Sucht, Gewalt – liest man die Ankündigungen, könnte man glauben, der früher drogensüchtige Schauspieler Tracy Letts (44) hätte auf einer Liste alles abgehakt, was billigen Effekt macht – wiewohl die von Exzessen überstrapazierten Kulturkonsumenten davon schon lang genug haben. „Eine Familie“ – die österreichische Erstaufführung ist seit Samstag im Akademietheater zu sehen – bietet dann doch etwas anderes als die kalkulierte Anhäufung von Katastrophen, nämlich die Restaurierung eines edlen Altertums: der amerikanischen Familientragödie. Vor 40 Jahren hat der Literaturprofessor Beverly Weston viel gelobte Lyrik geschrieben. Inzwischen ist er im Ruhestand, Alkoholiker und kokettiert mit Selbstmord: „Wir leben zu lange“, sagt er zu Beginn in seinem Fauteuil sitzend, umgeben vom Ramsch eines Einfamilienhauses.

Beverly ist bald tot. Er wird als Wasserleiche gefunden; ob er sich selbst umgebracht hat oder im Suff aus dem Boot gestürzt ist, bleibt offen. Die Großfamilie versammelt sich: seine tablettensüchtige Frau, drei Töchter, deren Männer, Gefährten, ein Enkelkind und eine Indianerin, die Beverly kurz vor seinem Verschwinden eingestellt hat.

Sie ist Cheyenne, kocht, hört den in wachsendem Ausmaß verrückt werdenden Familienangehörigen zu, rettet beherzt die 14-jährige Jean vor Vergewaltigung und hütet am Ende die desolate Familienmutter. In diesem ruhigen, guten Mädchen, das frei von Neurosen ist, zeichnet Autor Letts das Gegenbild zur US-Gesellschaft. Denn „Eine Familie“ hat auch eine politische Botschaft: das Resümee der Bush-Ära, in der die USA an der Welt und an sich selbst verzweifelten.

Letts hat kopiert, abgeschrieben, was wir in den letzten Jahrzehnten mit Lust und Schrecken gelesen und gesehen haben: Albees „Virginia Woolf“ – den George hat er selbst gespielt –, Tennessee Williams, Eugene O'Neill, Philip Roth, Richard Ford, John Updike. Man könnte nach dem ersten Akt das Kreuz über diesen Klon machen, speziell da der Text nur teilweise verständlich ist – eine grobe Unsitte –, die Gesprächspausen sich bedrohlich in die Länge ziehen, wodurch die Premiere von 19 bis 24h (mit zwei Pausen) dauerte und es hier einfach von A bis Z null Neues zu sehen gibt. Aber Letts ist ein sehr guter Handwerker, Alvis Hermanis ein mittelguter Regisseur, der hier mit Präzision und ideal dosierter Emotion fast zur Meisterschaft aufläuft – und das Ensemble ist himmlisch! Wer bloß Kirsten Dene, Dörte Lyssewski und Michael König hat, könnte auch etwas Gescheites zeigen. Allein die Dene! Ihre Familienmutter Violet ist ein giftspritzendes Wrack, ein ehemals geschundenes Kind, eine weise Frau, eine gnadenlose Diagnostikerin – diese Darstellung ist atemberaubend. Lyssewski als älteste Tochter Barbara ist eine entfesselte Perfektionistin auf der Flucht vor dem Schicksal der Eltern, das sie mit Whiskyglas, Zigarette und Pillenschachtel schließlich doch ereilt.

Selbstmörder steht als Sheriff wieder auf

Sylvie Rohrer (Ivy) und Dorothee Hartinger (Karen) spielen die beiden anderen Töchter, die eine verliebt in ihren Cousin, der in Wahrheit ihr Bruder ist – eine verhuschte Idealistin –, die andere das ewige Nesthäkchen; bei Karens neuem glorifizierten Mann, Steve (Martin Reinke), einem Glücksritter, ist der Lack ebenso schnell ab wie bei allen vorigen, nachdem er die 14jährige Jean (Sarah Viktoria Frick) vernaschen will.

Falk Rockstroh als Barbaras flüchtiger Gatte, der junge Mädchen flachlegt, Roland Kenda (wunderbar!) und Barbara Petritsch als Violets Schwager bzw. Schwester, Dietmar König als ihr Loser-Sohn, Michael König als Selbstmörder und als Sheriff sowie Anna Starzinger als Cheyenne Johnna – sie alle brillieren. Die Irritation über die Mängel des Konzepts weicht mehr und mehr der Begeisterung. Stücke wie dieses, heißt es böse, dienten der Ensemblebeschäftigung. Bitte mehr (und originellere) Beschäftigung dieses unglaublichen Ensembles.

US-KATASTROPHENFAMILIEN

„Eines langen Tages Reise in die Nacht“, Eugene O'Neills Künstlerfamilie Tyrone leidet am Leben, an Whisky- und Morphiumsucht. Mit Maria Bill als Mary Tyrone ist das Stück ab Februar im Volkstheater zu sehen. Immer wieder, am Burgtheater, am Volkstheater, als Gastspiel aus Berlin, war in Wien Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ zu erleben.Eine neuere US-Family-Soap war im Fernsehen die Serie „Die Osbournes“.

Vorstellungen: „Eine Familie“ von T. Letts (Bühne: M. Pormale, Kostüme: R. Bekic) am 2., 8., 10., 12.11. Info: 51444/4140.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.11.2009)

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