Und dann landet alles auf Youtube

Fotoprobe: "Vereinte Nationen"
Fotoprobe: "Vereinte Nationen"(c) APA/HERBERT NEUBAUER
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Clemens J. Setz hat mit "Vereinte Nationen" ein verstörendes Stück über Missbrauch im Internet geschrieben, zu sehen im Volx/Margareten.

Die Dörfer sind wieder da!“, heißt es in „Vereinte Nationen“ von Clemens J. Setz. Das konservative Dorf kippt politisch die progressive Stadt, sagt man. Setz' Stück hat aber nicht direkt mit Politik zu tun. Es handelt vom weitreichenden Missbrauch im Internet: Fünf junge Leute in blumengeschmückten Trikots vollführen zu Beginn ein Kampftraining. So sieht es zumindest aus. Dann tritt ein Mädchen auf, sie hat angeblich mit Speisen geworfen, jetzt muss sie alles aufessen. Den Körperspeck, den solche idiotischen pädagogischen Übungen hervorbringen, tragen manche Menschen den Rest ihres Lebens mit sich herum. Dem bedauernswerten Kind quillt die rote Pampe schließlich aus dem Mund, sie tropft auf den Boden, der Vater kehrt sie auf und stopft sie der heulenden Kleinen wieder hinein.

Was um Gottes willen ist hier im Gange? Die Eltern drehen Videos von ihren drakonischen Erziehungsmaßnahmen, die sie verkaufen. Von dem Geld leisten sie sich ein Haus mit Garten – und sie können ihrer Tochter tolles Spielzeug schenken.

„Vereinte Nationen“, der Titel ist vieldeutig, er bezieht sich auf die Debatten über mehr Humanität, die in dieser Kleinfamilie absolut fehlt, auf das globale Phänomen Missbrauch, das durch die Kameratechnik ermöglicht wird, aber auch auf die Tatsache, dass das Internet nie vergisst. Die Aufführung ist im Volx/Margareten zu sehen, eine Koproduktion mit dem Reinhardt-Seminar. Dessen Schüler sind immer besonders motiviert und großartig und erinnern daran, wie rasch sich die Begeisterung für die Muse Thalia in der Routine an Stadt-und Nationaltheatern manchmal verflüchtigt.

Holle Münster (34), die für das Kollektiv „Prinzip Gonzo“ tätig war, hat inszeniert. Gonzo ist der Tollpatsch aus der Muppetshow. Münster hat bei „Prinzip Gonzo“ die Partizipationsperformance „Spiel des Lebens“ betreut; hier konnte man sein Wunschleben erproben. Die Regisseurin verzichtete bei „Vereinte Nationen“ auf offensichtliche Brutalität. Sie zeigt die Figuren, wie sie in einer Mischung aus Selbstgerechtigkeit, Profitgier, Frust und Getriebensein ihrem schauerlichen Handwerk nachgehen.

Der Vater hat Skrupel

Nélida Martinez ist phänomenal als Tochter Martina, Clara Schulze-Wegener spielt ihre Mutter Karin, die ihren Mann Anton (Philipp Auer) – der Skrupel hat und vorschlägt, man möge die Tochter das Gequältsein lieber vorspielen lassen – fest unter der Knute hat. Oskar (Anton Widauer) – der keine Kinder will und seiner Freundin Jessica (Emilia Rupperti) blaue Flecken in den Arm quetscht – sind die sadistischen Kunden. Alles total übertrieben? Keineswegs. Im Internet kann man diese Videos ganz leicht finden.

Setz' Stück ist aber keine Kolportage, sondern ein vielschichtiger Text, der von der schrecklichen Kehrseite der Kindheit erzählt. Leute, die sich Nachwuchs anschaffen, sind heute von Ansprüchen geradezu umzingelt und prüfen sich ständig, ob sie gut genug sind. Schwere Missstände bleiben: Eltern rutscht die Hand aus, sie behandeln Kids so gemein wie sie selbst behandelt wurden – oder zwingen sie zu Hoppalas, die sie dann auf Youtube stellen. Intimität gibt es nicht mehr, alles kann öffentlich werden – und für immer. Missbrauch, Mord sind eine Sache. Aber: Wir alle haben mehr oder weniger grobe oder subtile Gewalt in uns, wir wollen das Allerbeste für unsere Kinder und versagen trotzdem. Auch daran erinnert dieses beunruhigende Drama.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2017)

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