Orwell im Volkstheater: So läppisch war »1984« noch nie

Kann man die sozialen Medien mit einem totalitären Überwachungsstaat gleichsetzen?
Kann man die sozialen Medien mit einem totalitären Überwachungsstaat gleichsetzen? (c) APA/HERBERT NEUBAUER (HERBERT NEUBAUER)
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Kann man George Orwells bedrohlichen Roman dramatisieren? Die fade und (auch politisch) fahrlässige Inszenierung im Volkstheater gibt darauf eine klare Antwort: So sicher nicht.

Neunzehnhundertvierundachtzig: Die Erde ist auf drei totalitäre Staaten aufgeteilt. In Ozeanien herrscht der Engsoz, in Eurasien der Neobolschewismus, in Ostasien eine Ideologie, die sich mit Todeskult oder „Auslöschung des Ich“ übersetzen lässt. Zwischen den Staaten ist ewiger Krieg, in ihnen Elend, künstlich aufrechterhalten. Die einzige Staatsraison ist Macht und Unterdrückung als Selbstzweck. Und es wird noch schlimmer: „Wenn Sie ein Bild von der Zukunft haben wollen“, sagt ein Ideologe und Folterer der Engsoz-Partei, „dann stellen Sie sich einen Stiefel vor, der auf ein Gesicht tritt – unaufhörlich.“

Von „The Circle“ bis „SS-GB“, die heutige Kunst, vor allem die Filmkunst, ist voller Dystopien, während die positiven Utopien rar geworden sind. Doch der Roman „1984“, vom todkranken George Orwell 1948 geschrieben, ist unerreicht in seiner heillosen Radikalität. Gewiss, Orwell, der sich selbst als demokratischer Sozialist sah, ging vom real existierenden Stalinismus aus, er kannte Berichte von Terror, Säuberungen und Selbstanklagen, doch er übersteigerte sie bis ins Äußerste. Seine Dystopie ist ein Grenzwert, per definitionem unerreichbar. Wir sind von ihr auch weiter entfernt als zu Orwells Zeiten; auch wenn es uns nicht so scheinen mag: Die Welt ist menschlicher geworden seitdem.

Hat uns der Roman „1984“ trotzdem etwas zu sagen heute? Gewiss, vor allem in seinen kühl, nein: eiskalt argumentierten Passagen. Kann man ihn dramatisieren? Vielleicht. Die Theaterfassung von Alain Lyddiard aus dem Jahr 2001, die meistens verwendet wird, ist eine schlichte, ganz geschickt gemachte Zusammenstellung aus Passagen des Romans; es ist schwer vorstellbar, dass eine Inszenierung, die sich an sie hält, so düster verstörend wirken kann wie die beiden Verfilmungen, vor allem die aus dem Jahr 1984 mit John Hurt in der Hauptrolle; doch liegt an der Natur des Theaters. Provokant gesagt: Theater ist kein radikales Medium.

Auch das Volkstheater erklärt, sich an Lyddiards Fassung gehalten zu haben, das steht im Programmheft. Doch es stimmt nicht. Erstens fehlen viele fürs Verständnis wesentliche Passagen, und vieles wurde sinnlos durcheinandergewürfelt, so fallen Sätze aus der Folterszene bereits beim – dümmlich fröhlich inszenierten – Turnen zu Beginn. Zweitens hat der Regisseur, Hermann Schmidt-Rahmer aus Düsseldorf, das Stück durch viele Fremdtexte erweitert und verändert. Und hier wird es bedenklich. Natürlich, in unsere tägliche Metaphorik hat sich „1984“ längst eingeschlichen, wir reden vom Großen Bruder, wenn wir uns von Politikern ungebührlich kontrolliert fühlen, von Neusprech, wenn wir die Sprachentwicklung kritisieren. Doch wir tun das ironisch, im Bewusstsein, dass das völlige Übertreibungen sind.

Schmidt-Rahmer scheint das anders zu sehen. Er will aus „1984“ ein Anti-Trump-Drama machen, er beginnt schon mit dem Spruchband „Once upon a time in the west“, lässt Passagen aus Trumps Antrittsrede verlesen, er führt vor allem wieder und wieder vor, wie Trumps Pressesprecher Sean Spicer die Besucherzahl bei der Inauguration völlig übertrieben darstellte, wie Trumps Beraterin Kellyanne Conway diese offensichtliche Lüge als „alternative Fakten“ bezeichnete.
Das ist weltweit zurecht glossiert, kritisiert und verspottet worden, natürlich auch in den USA. Diese lächerliche Lüge ist aber meilenweit entfernt von Verfälschungen der Wahrheit in totalitären Regimes, geschweige denn von der grauenhaften Welt von „1984“. Schmidt-Rahmers plumpe, noch dazu handwerklich schlecht gemachte Collage verwischt damit den Unterschied zwischen den USA – in denen, bei aller Kritik an Trump, eine Demokratie besteht, mit aufrechten „Checks and Balances“ – und argen Diktaturen.

Genauso unpassend ist eine zweite weitreiche Veränderung: Anstelle der Passagen aus dem Buch von Emmanuel Goldstein (den Orwell nach dem Vorbild Leo Trotzkis zeichnete), die die Welt von „1984“ erst erklären (auch in Lyddiards Fassung, wenn auch naturgemäß knapper als im Roman), bringt Schmidt-Rahmer eine läppische Kabarettnummer über die Gefahren von Facebook, Google und so weiter. Auch hier gilt: Man kann und soll diese sozialen Medien kritisieren, aber sie mit einem totalitären Überwachungsstaat gleichzusetzen, ist dumm.

(c) APA/HERBERT NEUBAUER (HERBERT NEUBAUER)

Aber von dem ist dieser Inszenierung ja auch wenig zu spüren. Statt der bedrohlichen Teleschirme regieren hier etwa Handkameras, die verwackelte Bilder ergeben wie in MTV-Videos aus den Achtzigerjahren. Auch die Menschen, die sich bei Orwell mit vollem Pathos gegen den Engsoz stellen, spürt man nicht im Volkstheater, auch weil die Schauspieler, wie so üblich im „postdramatischen“ Theater, nicht nur keine Empathie wecken, sondern auch keine Personen darstellen dürfen.

Rainer Galke muss den Winston oft verblödeln und – ganz störend – in der dritten Person über ihn reden, Katharina Klar darf als knabenhafte Julia nicht den geringsten Eros ausstrahlen, die Liebe zwischen den beiden wird überhaupt nicht glaubhaft, damit funktioniert auch ihre Entfremdung am Schluss nicht. Dass bei ihrer ersten Begegnung „Je t'aime“ läuft und Pornobilder gezeigt werden, ist sinn- und geschmacklos. Birgit Stöger spielt den von der Regie in eine Frau verwandelten O'Brien bald hysterisch, bald ausdruckslos, verleiht dieser Figur, die als einzige andeutet, wie sich ein unmenschliches Regime in die Seelen schleichen kann, aber keinerlei Charisma. Sebastian Pass muss einen Vertreter der Proles (bei Lyddiard „Prolos“, bei Schmidt-Rahmer „Loser“ genannt), recht lieblos darstellen. Gesungen wird über „Orandschen“ statt Orangen. Auch der Sprachfluss stimmt nicht.

„1984“

Wie fast alles in dieser Inszenierung. Fazit: Vielleicht muss man sich an den skurrilen Trend gewöhnen, dass im Theater heute schon fast mehr Romane als Dramen gespielt werden. Doch man darf verlangen, dass die Romane wenigstens ernst genommen werden.

George Orwell schrieb den Roman „Nineteen Eighty-Four“ (auf Deutsch meist „1984“ geschrieben) von 1946 bis 1948, er erschien 1949, ein halbes Jahr vor Orwells Tod.
„1984“ wurde zweimal verfilmt, 1956 und 1984 (mit John Hurt als Winston und Richard Burton als O'Brien). David Bowie verarbeitete den Stoff 1974 in seinem Album „Diamond Dogs“.

Der Große Bruder ist bei Orwell nach Stalins Vorbild gezeichnet, doch er kommt im Roman nicht wirklich vor, es bleibt sogar ungewiss, ob er (noch) lebt. In der Volkstheater-Inszenierung wird er mit US-Präsident Donald Trump assoziiert und als „Bruder Präsident“ bezeichnet.

Im Programmheft findet sich u. a. ein Aufsatz von Georg Seeßlen, der den „ökonomischen, politischen, kulturellen und sexuellen Trumpismus“ erklärt und in den Satz mündet: „Die Demokratie ist nicht zu retten. Es sei denn, man würde sie neu erfinden.“

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