Schlingensief tot: "Dieser verdammte Krebs!"

Schlingensief Dieser verdammte Krebs
Schlingensief Dieser verdammte Krebs(c) APA (ROLAND SCHLAGER)
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Reaktionen auf den Tod von Christoph Schlingensief: Einige sprachen vom "Finger in der Wunde", andere vom "Enfant terrible". Elfriede Jelinek nannte ihn den "Künstler schlechthin".

Christoph Schlingensief habe „immer den Finger in die Wunde gelegt“. Das sagten sowohl Stefanie Carp, Schauspieldirektorin der Wiener Festspiele, als auch Theatermacher Frank Baumbauer zum Tod des deutschen Künstlers, der am Samstag dem Lungenkrebs erlegen ist. (Die „Presse am Sonntag“ hat ihn ausführlich gewürdigt.)

Der Finger in der Wunde: Das wäre sonst eine abgedroschene Nachruf-Phrase für einen, den als „Provokateur“ auch kannte, wer ihn und sein Werk gar nicht kannte.

Auf Schlingensief passt sie erschreckend präzise. Nicht nur, weil er – nachdem er zunächst alle Berichte über sein Leiden unter Androhung von Geldstrafen untersagt hatte – selbst radikal öffentlich machte, wie das Adenokarzinom ihm zusetzte, das ihn, den Nichtraucher, befallen hatte; nicht nur, weil er in seiner Ready-Made-Oper „Mea Culpa“ (2009) durch Wellness-Anstalten und Krankenhäuser führte, in Duisburg gar das Röntgenbild seiner wunden Lunge in einer Monstranz vorführte.

„Denkt nur mehr mit eurer Wunde!“

Nein, die Wunde war für Schlingensief schon lange vor seiner – 2008 diagnostizierten – Erkrankung ein zentrales Motiv. Gefunden hat er sie im „Parsifal“, den er 2004 in Bayreuth inszenierte: die Wunde des Amfortas, die sich nicht schließen kann, bis der heilige Speer sie berührt. „Denkt nur mehr mit eurer Wunde!“, rief Schlingensief bei einem seiner mit schweren Zeichen schwer beladenen „Bambiland“-Abende im Burgtheater – und zeigte die offene Wunde auf Video, die Operation, das Wühlen und Schneiden im blutigen Fleisch. Dann das Traktätchen: „Meine Losung heißt Erlösung!“ Dann erigiertes Fleisch, dann Erschlaffen, dazu Worte über den Tod des Sohnes...

„Auch wieder so eine Kunstscheiße“

„Holy trash“, sagte Pop-Poetin Patti Smith, „heilige Einfalt“, schrieb die „Presse“. Doch kaum jemand konnte sich der Intensität solch tief obszöner, obszön tiefer Szenen entziehen. Dazwischen kasperlte Schlingensief, gab das anarchische Kind, das im Schutthaufen der Mythen spielt. Man wisse nicht, wann er etwas ernst meint: Das schrieben ehrliche Rezensenten bis zum Schluss. Er wusste es wohl selbst nicht. Respekt kannte er nicht vor seiner eigenen Kunst, am wenigsten vor seinem eigenen Leiden. „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein“, nannte er das Tagebuch seiner Krankheit. „Sterben lernen! Herr Andersen stirbt in 60 Minuten“, hieß 2009 ein Abend in Zürich. „Ich möchte so gerne noch bleiben, aber der Wagen, der rollt“, sang der Chor in „Via Intolleranza II“ im Juni 2010 bei den Wiener Festwochen, einer Abrechnung mit Illusionen von Entwicklungshilfe.

„Die wunderbaren Schmerzmittel, sie lösen einem die Zunge“, kommentierte er seine Redeflut. Er bedankte sich für das „geheuchelte Interesse.“ Er schrie: „Wie kaputt sind wir doch alle!“ „Danke, Jesus, dass du die Krankheit gegeben hast!“ Und er sezierte sein eigenes Engagement: „Ich möchte mir wie Brus Nadeln durch die Oberschenkel stecken, Spendenbeutel dranhängen und nach Afrika robben... Aber das wäre dann ja auch wieder so eine Kunstscheiße.“

„Bayreuth hat mich berührt“

Der ohnmächtige Protest gegen die Sinnverwertungsmaschinerie Kunst, der er sich unterworfen hatte, war wie seine Angst, gegen die er eine „Church of Fear“ (mit Säulenheiligen) gegründet hatte, ein Leitmotiv seiner Werke. Dass ihn die großen Kulturinstitutionen in ihre Stätten baten, erschütterte ihn nur kurz, dann trug er es mit radikaler Selbstironie, mit Beschimpfungen von Kollegen und seiner selbst. Nur Bayreuth ging ihm näher, scheint es. Er habe sich den Krebs dort geholt, sagte Schlingensief: „Bayreuth hat mich berührt, und ich habe Bayreuth berührt, da ist ein Funke übergesprungen.“ In die Wunde?

Noch am 1.August 2009 hatte Schlingensief seine langjährige künstlerische Mitarbeiterin Aino Laberenz geheiratet. Am ersten Hochzeitstag, also 20 Tage vor seinem Tod, schickte er das letzte SMS an den mit ihm befreundeten dpa-Kulturredakteur Wilfried Mommert: „Alles kaum zu fassen, geschweige denn auszuhalten. Das waren Schmerzen... Ich versteh's nicht. Kann man auch nicht. Nach einem Sinn suchen? Wenn das jetzt wieder was wird, dann mache ich mehr als drei Kreuzzeichen.“

„Ein furchtbar trauriger Tag“

Glaubhaft erschüttert reagierte Elfriede Jelinek, die dem Theatermacher Schlingensief ihre Texte ohne Rückversicherung anvertraut hatte. „Ich dachte immer, so jemand kann nicht sterben“, sagte sie: „Das ist, als ob das Leben selbst gestorben wäre.“ Und sie würdigte ihn: „Er war nicht eigentlich Regisseur (trotz Bayreuth und Parsifal), er war alles, ich weiß kein andres Wort dafür: Er war derKünstler schlechthin. Er hat eine neue Gattung geprägt, die sich jeder Einordnung entzogen hat. Es kann keinen wie ihn mehr geben. Ein furchtbar trauriger Tag.“

„Ich bin tief erschüttert, schockiert und traurig“, sagte Bayreuth-Chefin Katharina Wagner: „Es tut mir wahnsinnig leid, vor allem, weil er so gekämpft hat.“ Vom „großen Künstler“, vom „Provokateur“, vom „Enfant terrible“ verabschiedete sich eine Flut öffentlich Kondolierender; „ungeheure Sprengkraft, künstlerisch wie politisch“ bescheinigte ihm Klaus Staeck, einst radikaler Plakatkünstler, heute Präsident der Berliner Akademie der Künste, in deren Namen. „Mit Leib und Seele“ sei Schlingensief ein „Künstler in vielen Genres“ gewesen, schrieb ein Wiener Landtagsabgeordneter der Grünen. Und wieder die Phrase: „Er verstand es immer, seine Finger in die besonders schmerzenden Wunden der Gesellschaft zu legen.“ Mehr à la Schlingensief formulierte Claudia Roth, Chefin der deutschen Grünen: „Dieser verdammte Krebs!“

„Im Kreise seiner Familie“ sei er verstorben, steht auf der Homepage www.schlingensief.com, man bitte „statt Blumen und Kränzen um eine Spende für das Operndorf Afrika“. Ein Festspielhaus in Burkina Faso: Das war eines der letzten Projekte des Rastlosen. Wer weiß, was daraus wird.

„Kein Plan B“ für die Biennale Venedig

Offen ist auch, was 2011 im deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig passieren wird. Kuratorin Susanne Gaensheimer hatte Schlingensief die Gestaltung völlig anvertraut, weil sie ihn für den „perfekten Künstler“ dafür halte. „Es gibt keinen Anlass für Zukunftsprognosen und keinen Anlass für einen Plan B“, sagte sie. Ein Pavillon im Gedenken an Schlingensief vielleicht? Wer wagte es, dem großen, tragischen Spötter über Metaebenen eine Metaebene einzuziehen?

„Leben wäre eine prima Alterntive gewesen“, schrieb eine Frau ins Internet-Kondolenzbuch. Der Konjunktiv Perfekt, das fehlende „a“: vielleicht ein Schluss.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.08.2010)

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