Der zweifache Missbrauch im Fall Natascha K.

Akademietheater zweifache Missbrauch
Akademietheater zweifache Missbrauch(c) APA/GEORG HOCHMUTH (GEORG HOCHMUTH)
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Akademietheater. Regisseur Stefan Bachmann gelingt eine fantasievolle Umsetzung von Kathrin Rögglas zynischer Gesellschaftskritik: "Die Beteiligten" werden von einem souveränen Ensemble vorgeführt.

Am Anfang steht das Schauermärchen, mit dessen unheimlicher Perversion man einst wohl kleine Mädchen erschrecken konnte. Barbara Petritsch (die als „irgendwie-nachbarin“ brilliert) tritt vor den Vorhang des Akademietheaters. Sie trägt „Rotkäppchen und der böse Wolf vor“. Regisseur Stefan Bachmann leitet am Samstag die österreichische Erstaufführung von Kathrin Rögglas Drama „Die Beteiligten“ mit diesem Vorspiel auf dem Theater ein. Das ist einer von vielen gelungenen neben einigen weniger interessanten Einfällen, mit denen er diese Inszenierung einer sprachkritischen, strengen, im Konjunktiv verhafteten Vorführung von uns Schaulustigen aufpeppt und damit zur Verstärkung dieses Triebes einlädt.

Röggla hat sich eines heiklen Themas angenommen. Wie schreibt man über ein Opfer, das jahrelang in der Gewalt eines Psychopathen war, weggesperrt im Keller, ohne erneut eine Verhöhnung des Opfers zu begehen? Nun, Röggla bezieht sich offenbar auf den Fall Natascha K., ohne dieses Opfer direkt zu nennen. Die reale Natascha K. hat unlängst ihr Buch „3096 Tage“ herausgebracht – so lange war sie gefangen.

Zwischen den Klischees die Erschütterung

Diese Zahl wird auch in Bachmanns Inszenierung genannt, aber Röggla lässt das Mädchen nicht direkt zu Wort kommen, sondern nur indirekt über die Worte der Beteiligten, die sich ihr Bild von dem Entführungsopfer machen. Sie trifft den Ton genau. Worauf zielt Röggla ab? Es geht ihr um den zweifachen Missbrauch des Opfers. Erst durch das Ungeheuer Mensch, dann durch den Moloch Öffentlichkeit, der die Witterung der Sensation gierig aufgenommen hat.

Neben der „irgendwie-nachbarin“ treten auch „der quasifreund“ (Jörg Ratjen in einer unheimlich starken Darbietung), „der möchtegern-journalist“ (Peter Knaack), „die pseudopsychologin“ (großartig persifliert von Alexandra Henkel), „die optimale 14-jährige“ (Katharina Schmalenberg) und „das gefallene nachwuchstalent“ (Simon Kirsch) auf. Diese sechs Klischees bewirken nicht nur Bestätigung von Vorurteilen, sondern in den besten Momenten auch – Erschütterung. Und diesem souveränen Ensemble gelingt sie auch immer wieder, zumindest in den Szenen, die Bachmann nicht mit seinen zügellosen Einfällen überfrachtet hat.

Was hat zum Beispiel der Auftritt des Nachwuchstalents als SS-Offizier mit der Geschichte zu tun, was die Persiflage autoritärer Erziehung, die als Video von „The Sound of Music“ im Hintergrund abläuft? Gehört das nicht eher zum Fall F. aus Amstetten? Und auch der gemeinsame Auftritt der sechs Personen als Natascha K, mit lila Kopftuch, lila Bluse und in Bluejeans wirkt auf so manchen Zuseher wahrscheinlich geschmacklos – zu sehr hat sich dieses Bild vom realen TV-Auftritt des Opfers eingeprägt. Aufgesetzt, aber wirksam sind auch die Gesangseinlagen, Falcos „Jeanny“, ein dem Kinderschänder-Verdacht ausgesetzter Song, und das autobiografische „Out of the Dark“ sowie Marius Müller Westernhagens „Freiheit“. Doch manche Bilder sind wirklich stark. Wenn der böse Wolf als Schattenriss in einem erleuchteten Fenster erscheint und seine Version der Story von sich gibt, mit dem Opfer im Bauch des Wolfsmenschen, oder wenn die Schauspieler sich um einen Fernseher gruppieren und die Jagd des Mädchens durch einen Wald verfolgen. Als Affen maskierte Menschen stellen sie das Opfer, das die Kameraperspektive einnimmt.

Scheinbar entblößte Voyeure

Jörg Kiefel hat mit einfachen Mitteln ein raffiniertes Bühnenbild gebaut. Während etwa die Darsteller auf fast leerer Bühne fernsehen, sieht man das, was sie sehen, hinten auf Video. Während sie anscheinend bei einer Pressekonferenz in einem hölzernen Guckkasten auf der rechten Seite herumlungern, sieht man durch eine Kamera, die sie konfrontiert, an der Rückseite der Bühne in Großaufnahme die schlimme Neugier jener Person, die gerade am Wort ist. So werden die Zuseher zu Voyeuren der Voyeure. Die erscheinen dann, gegen Schluss, völlig entblößt, aber nur scheinbar. In Kostümen, die sie nackt aussehen lassen, treten sie auf, zerren das Mädchen weg. Es wird in seine Decke gehüllt, mit einer Schaufel erschlagen und vergraben. Eine pechschwarze Fantasie.

Jetzt ist es an der Zeit für eine Katharsis im Stile Bachmann. Wie Uma Thurman in Kill Bill wird die 14-Jährige zur Rächerin mit dem Samuraischwert. Sie schlachtet die anderen, als ob sie der Jäger aus dem Grimm'schen Märchen wäre. Dann legt ihr ein Troll die Hand auf die Schulter und nimmt ihr die Waffe weg. Und weil sie nicht gestorben ist, beschäftigt N. uns noch heute.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2010)

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