Türkei: Kulturminister droht Theatern

(c) REUTERS (MOHAMED AZAKIR)
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Kopftuch oder Kaugummi? Sümeyye Erdoğan, eine Tochter des Ministerpräsidenten Tayyip Erdoğan, fühlte sich bei einem Theaterbesuch provoziert. Darauf stellte der Kulturminister Günay die Subventionen infrage.

Es begann harmlos: Sümeyye Erdoğan, eine Tochter des Ministerpräsidenten Tayyip Erdoğan, ging ins Theater, wollte sich das erfolgreiche moderne Stück „Der junge Osman“ ansehen. Sie trug den „Türban“, ein Kopftuch, das bis auf das vordere Gesicht alles verdeckt. So saß sie in der Mitte der ersten Reihe und kaute Kaugummi.

In einer der ersten Szenen erschienen Janitscharen und Sipahi, die gefürchteten Truppen des Sultans, wild tanzend auf der Bühne. Plötzlich machte ein Janitschar in Richtung Sümeyye eine missbilligende Bewegung mit der Augenbraue. Als sie ihn verwirrt ansah, äffte er ihr Kauen nach. Im Gesang der Janitscharen hieß es dann: „Die meisten im Volk haben Hunger, wenn auch wenige satt sind“, beim Wort „satt“ zeigte der Schauspieler auf Sümeyye.

Empört verließ sie das Theater, ihre Nichte und 150 Schüler schlossen sich ihr an. Kurz nach der Vorstellung erschienen zwei Leibwächter Erdoğans im Theater und fragten nach dem Schauspieler. Die Direktion leitete sofort eine Untersuchung ein. Ertugrul Günay, Minister für Kultur und Tourismus, erklärte, er habe den Schauspieler persönlich verwarnt. Und Erdoğan sagte bei einer Pressekonferenz in Straßburg: „Die Kunst macht man auf diese Weise nicht beliebt.“ So stecke man sie „in die Zwangsjacke einer Ideologie, die jenseits der Kunst liegt“.

„Bei Allah, in eure Kasernen!“

Seine Tochter glaubt nämlich, ihr Türban sei Anlass für die Einlage des Schauspielers gewesen. Dieser versichert aber, dass sie zum Stück gehöre. Er habe es schon 177-mal gespielt, und nie habe sich jemand beschwert. Wenn Sümeyye, die er nicht erkannt habe, länger geblieben wäre, hätte sie mitbekommen, wie der Sultan die Janitscharen zurechtweist und befiehlt: „Bei Allah, in eure Kasernen!“ Diese Aufforderung an die Armee, sich auf ihre Aufgabe zu beschränken, statt die Leute zu gängeln, sei durchaus im Sinne der Politik Erdoğans.

Dessen Tochter hat ihren Bericht über den Vorfall indessen aus dem Internet entfernt. Doch Minister Günay spricht weiter von „Nichtachtung“ der Zuschauer durch die Schauspieler: „Wenn sie die Zuschauer ins Spiel ziehen, dann gibt es eben ein Problem beim Verständnis von Kunst.“ Und er stellt die Institution der staatlichen Theater infrage: „Braucht die heutige Türkei staatlich angestellte Schauspieler?“ Günay empfiehlt, die Hälfte des Geldes privaten Theatern zu geben und die andere Hälfte einzusparen.

Diese Affäre passt zum Kulturverständnis von Erdoğan und seiner AKP. Erdoğan setzt sich auch vehement für den Abriss zweier Statuen des Künstlers Mehmet Aksoy in Kars ein: Sie stören angeblich den Blick auf das Grab eines islamischen Heiligen, das allerdings einen Kilometer entfernt und erheblich höher ist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.04.2011)

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