Volkstheater: Reise mit Migranten zwischen Kitsch und echter Erschütterung

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"Die Reise", eine Uraufführung im Volkstheater, bei der Migranten ihre Schicksale erzählen, begeisterte, weckte aber auch Skepsis. Manche Geschichten rühren zu Tränen. Zeitweise gibt es auch komische Momente.

„Flüchtlingsmutter“ Ute Bock wurde Freitagabend auf der Bühne des Volkstheaters mit Standing Ovations empfangen und erhielt beinahe mehr Applaus als ihre Schützlinge, die zuvor bei der Uraufführung von „Die Reise“ ihre Erlebnisse erzählt hatten. Das Theater umarmt die Wirklichkeit: Büromenschen, Journalisten, Senioren erscheinen auf der Szene und sprechen über sich. Folgt das Theater dem Exhibitionismus des Fernsehens? Und was bringt das? Nun: Die alte Kunst hat die Welt nicht verändert. So kann man es auch kaum von der neuen erwarten. Eher geht es um Erinnerung, Innehalten, Empathie entwickeln – angesichts der Katastrophen, die uns umgeben, deren flüchtige Bilder uns umwehen, natürlich ohne ernsthaft weh zu tun.

Grüne Grenze, Elektroschocks. Die deutsche Schauspielerin und Regisseurin Jacqueline Kornmüller lässt 30 Migranten und Migrantinnen zu Wort kommen: Die Bandbreite ist gewaltig, sowohl geografisch als auch inhaltlich. Welten trennen die Ungarin, die als Achtjährige mit ihren Eltern ein paar Kilometer durchs Maisfeld marschierte und in Österreich war, und die Argentinierin, die nach Gefängnis und Folter floh – und zu weinen beginnt, als sie von dem Arzt berichtet, der die Elektroschocks stoppte, wenn Exitusgefahr bestand. Bei manchen Geschichten kämpft man selbst als hart gesottener Kritiker mit den Tränen. Die szenische Illustration ist wohl etwas konventionell: Koffer, Koffer-Choreografie, die das Drängende und Gedrängte illustrieren soll, der Koffer, das Lieblingsrequisit des Regietheaters der letzten Jahrzehnte. Die einzelnen Menschen aber sind sehr deutlich und nah, gut geführt, würde man bei einer normalen Aufführung sagen.

Fantasien, Resignation. Diese Kreation mag künstlerisch nicht sonderlich innovativ sein, aber sie unterscheidet sich von ähnlichen Produkten durch ihre absolute Authentizität. Nicht Schauspieler spiegeln etwas vor, so perfekt es immer sein mag, sondern Menschen stellen ihr eigenes Schicksal dar. Da gibt es zeitweise auch komische Momente, wenn etwa eine junge Ukrainerin über die Frustration durch Politik und Leben in ihrer Heimat spricht, die sie in der Business-Class verlassen hat, um in Wien zu studieren, Wirtschaft, denn eines steht für sie fest: Sie will reich werden und mächtig. Hier ergibt sich der einzige Moment, in dem die globalen Verteilungskämpfe thematisiert werden, die gern hinter Herz-Schmerz verborgen werden. Entzückend ist die Japanerin, die von seltsamen Grabriten ihrer Heimat erzählt, auch hier verlässt jemand ein hermetisches Bild, das vom stets höflichen, undurchdringlichen „Asiaten“.

Kreuz und quer durch Länder, Kontinente, zu Fuß. Eine kolumbianische Ärztin musste emigrieren, nachdem sie den Präsidenten informiert hatte, dass Drogen und Waffen mit Medizin- und Krankentransporten reisen. Eine Mutter aus Tschetschenien übernachtete mit ihren fünf Kindern im Wald. Ein Richter, der bis zum Balkan-Krieg ein gutes Leben gehabt hatte, flüchtete mit seiner Familie; er bedeckt seinen kahlen Schädel mit einem Tuch, weil ihn die Erinnerung an den zurückgelassenen Hund, der wie wahnsinnig jaulte, überwältigt.
Eines kann man sich nach diesem Abend gründlich abschminken: das Vorurteil, dass Flüchtlinge sich mit Lust in den „goldenen Westen“ stürzen. Die Freiwilligkeit hält sich bei den meisten in Grenzen. Ihre Lebensumstände sind hier wie in ihrer Heimat miserabel. Die Frage nach dem Sinn jeglicher Existenz stellt sich völlig anders, wenn man zwischen Ländern, Kontinenten schwebt, die Familie fern, keine Arbeit. Das alles teilt sich an diesem Abend plastisch mit. Insofern ist dem Volkstheater bei aller Skepsis gegen Kunst für „Sentimentalisten“ wohl ein Beitrag zur beidseitigen Integration gelungen. „Reisen Sie gern?“, fragt eine Akteurin zwischendurch eine ältere Besucherin. „Ja! Aber ich reise nie. Das hier ist mein Ersatz für das Reisen“, sagt diese. So wird Theater einigen seiner schönsten Aufgaben gerecht: dem Bewegen und Öffnen der Herzen.

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