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Verrückter Kampf ums Verrücken der Mauer

Ein gezielter Fehlalarm um die Berliner East Side Galleryschlägt Wellen nicht nur an der Spree.

Viele Deutsche hatten schon längst vergessen, was die East Side Gallery ist: nämlich ein gut 1300 Meter langer Rest der Berliner Mauer am Spreeufer, der kurz nach der Wende von 118 Künstlern aus aller Welt bemalt wurde. Doch seit einer Woche ist der bunt verwitterte Betonstreifen wieder in aller Munde und weckt ungeahnte Emotionen.

6000 Menschen demonstrierten vergangenen Sonntag vor ihm, ein Tableau, das ein wenig an den November 1989 erinnerte. Damals wollten die Berliner ihre verhasste Mauer schleunigst zu Fall bringen, heute hingegen retten, was noch übrig ist – natürlich vor bösen Immobilienspekulanten. Anlass war ein Aktivistenalarm: Eines der letzten zusammenhängenden Mauerstücke, noch dazu künstlerisch veredelt, soll in einer Nacht-und-Nebel-Aktion niedergerissen werden, um Luxuswohnungen zu errichten.

Die fetzige Botschaft machte, begleitet von suggestiven Demo-Fotos, weltweit Furore. Die BBC, der „Guardian“ und US-Zeitungen berichteten. Auch Promis ließen sich nicht lumpen. Eine Petition unterschrieb David Hasselhoff, der einst an der Mauer mit „Looking for Freedom“ die Wende-Euphorie musikalisch geschürt hatte. Zur erregten Menge sprach Schauspieler Ben Becker.

„Wowereit, die Mauer bleibt!“ skandierten die Wutbürger, und der aufgeschreckte Bürgermeister machte die Kiez-Querelen eiligst zur Chefsache.

Dabei ist an der lancierten Story so gut wie nichts Wahres dran. Kurze Abschnitte der East Side Gallery sollen nicht abgerissen, sondern versetzt und 50 Meter weiter wieder aufgestellt werden. Historisch nicht gerade authentisch, aber keine neue Idee: In die zeitgeschichtsträchtige Freiluftgalerie haben Bagger bereits fünf Mal Löcher geschlagen, darunter ein mit 45 Metern ziemlich langes bei der Mehrzweckhalle O2-World. Dieses Mal braucht es einen Zugang zu einer Fußgängerbrücke, die alle wollen (22 Meter).

Und dann soll da tatsächlich eine vorhandene Lücke für eine Strandbar um ganze 7,80 Meter erweitert werden, um geplante Wohnungen am Spreeufer an die Straße anzuschließen. Baugenehmigung: 2002; mittlere bis höhere Preisklasse. Es geht also um die von langer Hand geplante Verrückung von 0,6 Prozent der East Side Gallery. Es geht, kurz gesagt, um nichts. Much ado about nothing.

Die ziemlich dreiste Irreführung der Öffentlichkeit ist der Initiative „Versenkt Mediaspree“ gelungen. Sie kämpft seit vielen Jahren gegen eine Verbauung der Brachflächen am Friedrichshainer Flussufer. Was ihr gutes Recht ist, aber mit der Ehrfurcht vor Kunst und Geschichte nichts zu tun hat. Etwas anderes aber zeigt diese Bezirksposse: Die Berliner Mauer bleibt ein Symbol von ungeheurer affektiver Kraft. Ob sie nun steht oder fällt oder versetzt wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.03.2013)

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