John Grant: „Ich bin eine große Enttäuschung“

Offenherzig. John Grant nimmt sich kein Blatt vor den Mund.
Offenherzig. John Grant nimmt sich kein Blatt vor den Mund.(c) Hörður Sveinsson
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John Grant über sein Album „Pale Green Ghosts“, den Geruch von Bäumen, seine Anfänge in der Kirche und sein großes Aufatmen.

John Grant wird gern in die Schublade der Schwulenikone gesteckt. Seine HIV-Diagnose hat er bei einem Festivalkonzert bekannt gemacht. Er spricht auch offen über seinen erfolgreichen Kampf gegen den Alkoholismus.
Seinen Standpunkt kann der 1968 in Michigan geborene, in Colorado aufgewachsene Singer-Songwriter eloquent in mehreren Sprachen vertreten, etwa in Russisch, Französisch, Spanisch. Seine Inspirationen fand Grant auf vielen Gebieten: Er sang im Kirchenchor, begeisterte sich für Abba, Supertramp, Nina Hagen. Ein Jahr lebte er in Heidelberg. „Pale Green Ghosts“ heißt das letzte Album des Stars, der in New York und Island zu Hause ist. Ferner veröffentlichte Grant die exklusive EP „Get Schooled“ mit fünf Duetten, etwa mit Sinead O’Connor und Beth Orton. Im Interview in London nimmt sich Grant kein Blatt vor den Mund, erzählt von harten Zeiten und schwärmt von Frühlingsluft.

Sie sind sehr offen: Hatten Sie je Probleme deswegen?
Ich verstecke mich nicht. Das ist reiner Egoismus. Immer wieder werde ich in Interviews gefragt, ob ich es nicht für gefährlich halte, dass ich so unverblümt darüber rede, wer ich bin. Ich denke, es sagt viel über die Menschen aus, dass diese Frage so oft gestellt wird. Es ist typisch für den üblen Zustand unserer Gesellschaft, dass offene Worte als ungewöhnlich angesehen werden, da nennt man mich dann einen „bekennenden Singer-Songwriter“. Dabei rede ich nur über die Dinge, die in meinem Leben wichtig sind, und das scheint mir die natürlichste Sache der Welt zu sein. Ich spreche darüber, weil ich verstehen möchte, wo ich herkomme, das ist wichtig für meine Kunst.

Sie hatten einmal vor, als Übersetzer zu arbeiten. Als Musiker haben Sie internationalen Erfolg. Man könnte sagen, Sie haben die Erwartungen, die Sie an Ihr Leben stellen, weit übertroffen.
Ich würde nicht sagen, dass ich die Erwartungen übertroffen habe – ich würde sagen, dass ich eine große Enttäuschung bin. Ich denke, man hat erwartet, dass ich mit meinen Deutsch- und Russischkenntnissen Missionar in Russland werde. Aber mein Vater, wissen Sie, mein Vater ist ein toller Mann, und er ist jetzt 76 Jahre alt, aber er hat trotz allem seine Einstellung gegenüber Homosexualität geändert. Und er macht es mir deutlich, dass er mich liebt und dass er stolz auf mich ist, auch wenn ihm diese Themen schwerfallen. Ich denke, es ist wichtig, verschiedene sexuelle Orientierungen zu tolerieren. Ich erwarte, dass er mir gegenüber Toleranz für Dinge zeigt, die er nicht versteht, also muss ich ihm dasselbe erlauben. Ich hatte Glück, als er herausfand, dass ich schwul bin. Ich hatte nicht solche Eltern wie andere, die dich verprügeln und aus dem Haus werfen.

Hatten Sie das erwartet? Oder befürchtet?
Nein, aber ich dachte, dass ich vielleicht ausziehen müsste. Es war eine sehr schwierige Zeit. Kurz nachdem ich mich geoutet hatte, erkrankte meine Mutter an Lungenkrebs und starb. Ich hatte nie die Chance, mich richtig von meiner Mutter zu verabschieden. Das war schlimm. Trotzdem konnte ich mich leichter zu dem, was ich war, bekennen. Natürlich liebte ich meine Mutter und vermisste sie. Aber ohne sie fiel es mir leichter, ich selbst zu sein.

Erzählen Sie mir von den fahlen grünen Geistern, die Ihrem letzten Album den Namen geben: „Pale Green Ghosts“.
Die „Pale Green Ghosts“ sind Bäume, die einen besonderen Duft am Ende des Jahres verströmen. Dies ist wohl mein Lieblingsgeruch, der mich an glückliche Momente erinnert. Auf diesem Album geht es um die einfachen Momente des Daseins, du fährst die Autobahn hinunter, und es ist gerade warm geworden, und du hast die Fenster offen, die warme Frühlingsluft kommt durch die Fenster und spielt mit deinem Haar, und du denkst an diesen Geruch und riechst sie, diese fahlen grünen Geister. Für manche sind sie Unkraut. Vielleicht ist da diese unbewusste Verbindung für mich, weil sie als deplatziert angesehen wurden, als etwas, was man loswerden will. Aber sie hatten den schönsten Duft von allen Bäumen.

Sie spielten von klein auf Klavier, war Ihr Elternhaus künstlerisch ausgerichtet oder interessiert?
Es war alles in der Kirche verankert, wir spielten Hymnen. Mein Vater sang in der Kirche, meine Mutter war im Chor, also drehte sich alles um die Kirche. Künstlerisch, na ja, ich bin wohl eher satanisch angehaucht. Arroganz und Stolz, das sind Dinge, die der Kirche ein Dorn im Auge sind, doch nie hat jemand mit mir über den Unterschied zwischen Arroganz, Stolz und gesundem Selbstvertrauen geredet. Dass man an sich selbst glauben und nicht denken soll, dass man der letzte Dreck ist, und wo die Grenze zum arroganten Schwein ist. Ich wünschte, jemand hätte mir einmal all diese Feinheiten erklärt. Wir dachten einfach, dass du dich nur so lange gut fühlst, bis du fällst.

Sie haben sich offensichtlich von alldem befreit.
Es war ein großes Aufatmen für mich, weil du dich dein ganzes Leben vor dem Hinfallen fürchtest. Und dann passiert es eben. Zuerst fühlte ich so etwas wie gerechte Bestrafung, das musste ich erst einmal verarbeiten, ich war wütend auf mich selbst, weil ich das zugelassen hatte – es war vermeidbar, und ich hatte mich selbst in die Situation gebracht. Übrigens ist das hier das Gebäude, in dem ich die Person, die mir HIV vermacht hat, getroffen habe, in diesem Haus. Also heute hier zu sein, zum ersten Mal seit damals, das ist irgendwie . . . Ich erinnere mich, meinem Record Label gesagt zu haben, dass ich hier nicht spielen möchte, weil mich die ganze Situation unrund macht. Also buchten sie mich fünf Minuten später hier ein. So ist offenbar das Leben . . .

Tipp

John Grant gastiert heuer etwa in Barcelona, Leeds, den Niederlanden, Kassel, am 28. 6. beim Glastonbury Festival und in den USA. glastonburyfestivals.co.uk

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