Pop

Justin Timberlake: Ein Agent der wilden, freien Liebe

KONZERT ´JUSTIN TIMBERLAKE´ IN DER WIENER STADTHALLE.
KONZERT ´JUSTIN TIMBERLAKE´ IN DER WIENER STADTHALLE.(c) APA/HERBERT PFARRHOFER (HERBERT PFARRHOFER)
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Auf den Tag genau sieben Jahre nach seinem letzten Auftritt in Wien triumphierte der gereifte Justin Timberlake mit Liebes- und Erotiketüden in der ausverkauften Stadthalle.

Was geht in einem Menschen vor, dem 16.000 Kehlen minutenlang entgegengellen, bloß dafür, dass er auf der Bühne steht? Noch war das Mikro nicht am Mund gewesen, da brach eine Dezibelattacke über ihn herein, die weniger teflonbeschichtete Herzen zu Tode geängstigt hätte. Allein, um Justin Timberlake muss man sich nicht sorgen. Der hat schon als Achtjähriger in einer Kinderabrichteanstalt namens „Mickey Mouse Club" (eine TV-Sendung, in der auch Christina Aguilera und Britney Spears anfingen) seinen Schutz gegen Vanitas und Superbia aufgebaut. Für ihn war und ist Alltag, was für nicht gestählte Egos letal wäre: die Konfrontation mit der Bestie Publikum.

Wie jeder gute Artist neckte und herzte er sie zu gleichen Teilen. Zunächst orchestrierte er das infernalische Tosen, indem er sich den Jubel segmentweise aus der Halle kommen ließ. Die Galerie ließ er hecheln, das Parkett quietschen, bis ein wenig Luft aus dem Monster war. Dann startete er seine wohlig schnurrende Ekstasemaschine mit „Pusher Love Girl". Schwelgerische Geiger entschwebten den Keyboards. Endlich führte er das Mikro an seinen Mund. Amor erschien im ersten Szenario in Gestalt purer Sucht: „I don't wanna ever come down off this cloud of lovin' you", hauchte Timberlake zu gezierten Beats. Ein paar Schläge später wurde es explizit. Timberlakes Designerfistelstimme schraubte sich in schwindelerregende Tiefen: „Now I'm just a junkie for your love, my heroin, my cocaine, my plum wine, my MDMA, I'm hopped up on it."

Masochismus in „TKO"

Die Drogenmetaphorik mag plump erscheinen, für eine immer prüdere Gesellschaft hält die Kunst Timberlakes allerdings Zündstoff bereit. Das einstige Teenidol ist weniger der Saubermann im Smoking als ein Agent der freien, wilden Liebe in all ihren Ausformungen. Später, im von Barry-White-Streichersamples geadelten „TKO" (für „Technical Knock-out"), tat sich Timberlake an der für ihn exotischsten Form der Liebe gütlich: am Masochismus. Der von allen Angehimmelte wird von seinem Schwarm kühl negiert. Das provoziert ihn. „Kill me with the coo-coochie-coochie-coo" („coochie" steht im Blues für die Vagina), sangen die Backgroundsänger und reflektierten wie der Chor in einer griechischen Tragödie das Innenleben des emotional zerzausten Helden. An anderer Stelle verlangte dieser vom alten Dämon Liebe entschieden Neues. „Gimme What I Don't Know (I Want)" hieß ein Highlight des Abends.
Timberlakes Comeback als frauenumschwärmter Crooner ist einigermaßen überraschend. Sieben Jahre lang hat er sehr erfolgreich eine Karriere als Schauspieler verfolgt, ehe er im Vorjahr mit seinen beiden Alben „The 20/20 Experience" an seine famose Sängerlaufbahn anschloss. Und doch war das Comeback alles andere als ein Zufall. Gemeinsam mit Timbaland und J-Rock (die auch bei Michael Jacksons posthumer Scheibe „X-Scape" federführend waren) schrieb er an die 25 Songs, die die sanfte Ästhetik von schwarzen Soul-Boygroups wie The Chi-Lites und The Whispers mit dem Utopia eines imaginierten Future-Funk verbinden.

Nur der Gitarrist spielte zu rockig

Die fast ausschließlich aus Afroamerikanern bestehende Formation The Tennessee Kids setzt diesen Sound auf Tour ideal um. Sie besteht aus einer fetzigen Bläsersektion, zwei abwechslungsreich trommelnden Schlagzeugern und zwei Keyboardern, die auf Dezenz Wert legen. Einziges Manko des rasanten Wien-Auftritts war der Gitarrist, der entschieden zu oft Rock statt Funk spielte. Timberlake selbst mimte eine Art zeitgenössisches Hybrid von Marvin Gaye und Michael Jackson. Einen Song lang gab er Elvis Presley, den größten Sohn seiner Heimatstadt Memphis. Die Akustikgitarre umgeschnallt, schaute er bei seiner swingenden Lesart von „Heartbreak Hotel", was sein Becken an runden Bewegungen herzugeben bereit war. Okay, aber für weit mehr Begeisterung sorgte er mit eigenen Arschwacklern wie „Like I Love You" und „SexyBack", die er in edelstem Falsett vortrug. Auch die Adaption von Kool & The Gangs „Jungle Boogie", das durch den Film „Pulp Ficiton" eine neue Generation erreicht hat, beglückte flächendeckend. Die ungenierte Michael-Jackson-Mimikry im zart federnden „Take Back The Night" sorgte sogar für mehr Jubel als das Cover von Jacksons „Human Nature". Das Surrogat ist mittlerweile offenbar gefragter als das Original.

Nach einer heftig bejubelten Hommage an das kurzlebige Neunzigerjahre-Genre New Jack Swing in Gestalt einer ausgelassenen Version von Bell Biv Devoes „Poison" kratzte Timberlake mit dem Hit „Suit & Tie" noch einmal am höchsten Glück. Was blieb, war der Blick in den Spiegel. Sittliche Selbstprüfung? Keineswegs. In „Mirrors" reflektiert sich der Protagonist im Liebespartner. „My mirror staring back to me": Den Sänger schaudert vor der Kehrseite der Leidenschaft. Liebe schenkt Freiheit und ist gleichzeitig das größte Regulativ einer Gesellschaft. Das schwerelose Tänzeln um diese gewichtige Doppelgesichtigkeit, das ist die große Kunst des Justin Timberlake.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.06.2014)

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