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75 Jahre Blue Note: "It must schwing"

U.S. singer Jones performs onstage during the 44th Montreux Jazz Festival in Montreux
U.S. singer Jones performs onstage during the 44th Montreux Jazz Festival in MontreuxREUTERS
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Wie ein Berliner Jude in New York das berühmte Jazzlabel schuf, und warum es so erfolgreich blieb: Die "Presse am Sonntag" hat sich beim Galaabend von Blue Note umgehört.

Es begann wie so viele Erfolgsgeschichten, mit einer Aneinanderreihung glücklicher und weniger glücklicher Zufälle. Der halbwüchsige Berliner Jude Alfred Lion wollte eines Nachmittags im Jahr 1925 zu seiner geliebten Rollschuhbahn, als seine Blicke von einem Plakat angezogen wurden. Sam Wooding, ein farbiger Jazzmusiker, lud mit seiner Gruppe The Chocolate Dandies zu einem Konzert in den Admiralspalast ein.

Der Bursche, ein leidenschaftlicher Radiohörer und Plattensammler, wusste sofort: Da musste er hin. „Es war etwas vollkommen Neues für mich, aber es hat mich sofort begeistert“, zitiert ihn Richard Cook in seinem Buch „Blue Note – Die Biographie“. Lion, der Gründer des großen Labels, wurde 1908 geboren und wuchs in der Gotenstraße 7 auf der sogenannten Roten Insel in Schöneburg auf. Dieses von Bahngleisen eingegrenzte Arbeiterviertel Berlins, aus dem auch Marlene Dietrich, Hildegard Knef und der Sozialist August Bebel stammen, leistete erheblichen Widerstand gegen die Nationalsozialisten. Aber es half alles nicht. 1935 musste Lion mit seiner Mutter emigrieren. Zunächst nach Chile, 1937 dann in die USA.

In New York gründete er 1939 mit seinem deutschen Jugendfreund, dem Fotografen Francis Wolff, das Plattenlabel Blue Note. Es gilt heute noch als Musterbeispiel eines gut geführten Independent-Labels. Alfred Lions Credo lautete schlicht: „Produziere die Musik, die du liebst.“ Die erste Aufnahmesession fand am 6. Jänner 1939 statt. Es war ein Duett der beiden Boogie-Woogie-Pianisten Albert Ammons und Meade Lux Lewis, zweier Stars, die kurz davor in der Carnegie Hall begeistert hatten.

Mit deren quecksilbrigem „Boogie Woogie Stomp“ startete heuer im Mai auch die große Jubiläumsgala „Blue Note at 75“ im noblen Kennedy Center in Washington. Die Pianisten Jason Moran und Robert Glasper hetzten lustvoll durch den Notendschungel, der immer noch dieselbe Lebensfreude ausstrahlte wie ehedem. Moran, der die Gala als künstlerischer Kurator betreute, mischte bei seiner Künstlerauswahl liebevoll die Generationen.

Merkwürdig war nur die Absenz von Herbie Hancock. Sonst waren alle Asse da. Norah Jones durfte mit dem Wayne-Shorter-Quartet singen, die Veteranen Lou Donaldson und Dr. Lonnie Smith wurden von einer jungen Rhythmusgruppe angestachelt. Dazu kamen gehaltvolle Beiträge von Dianne Reeves, Joe Lovano, McCoy Tyner und Bobby Hutcherson. Im Hintergrund der brillanten Darbietungen lief eine Plattencover-Diashow, die in strikter Chronologie zeigte, warum Blue Note auch hinsichtlich grafischer Gestaltung stilbildend war. „Sound, Stil und Design von Blue Note werden stets cool bleiben!“, rief Moran enthusiastisch in den Saal.


„Blue-Note-Alben fielen sofort auf.“
In der ersten Hochblüte der Schellack- und Plattenproduktionen war es wichtig, dass man sich im Geschäft von den Konkurrenten abhob. Michael Cuscuna, der in den Achtzigern zahlreiche rare Blue-Note-Aufnahmen auf seinem Label Mosaic wiederveröffentlichte, erinnert sich. „Die Blue-Note-Alben fielen sofort auf. Sie hatten einen eigenen visuellen Touch. Das Label stand von Anfang an für eine Kombination von Innovation und Qualität.“

Innerhalb weniger Jahre schaffte es Blue Note, die interessantesten Künstler der damaligen Zeit zu gewinnen. In den Fünfzigerjahren nahmen Granden wie Thelonious Monk, John Coltrane und Miles Davis für Blue Note auf. In den Sechzigerjahren kamen Horace Silver, Ike Quebec, Art Blakey, Herbie Hancock, Wayne Shorter, Jimmy Smith und viele andere dazu. Ab 1956 zeichnete der Designer Reid Miles für die abenteuerliche Ästhetik verantwortlich. Mit oft einfachen, aber avantgardistisch anmutenden grafischen Elementen und mutigem Beschneiden der Fotos von Francis Wolff sorgte er für den nötigen Thrill. Aber auch die von Wolff geschossenen Bilder waren höchst eigen. Sie entstanden alle im Aufnahmestudio von Rudy Van Gelder.


Der geniale Fotograf. Obwohl sie so aussehen, als wären sie in dunklen Räumen aufgenommen worden, entstanden sie im hell erleuchteten Studio. Cuscuna: „Wolff verwendete eine Rolleiflex mit einem tragbaren Blitzlicht und bewegte sich wie ein Geist zwischen den spielenden Musikern. Das Erstaunliche ist, dass seine Bilder wie ausgeklügelte Porträts wirken. Wollten Kollegen so etwas produzieren, mussten die Musiker stundenlang posieren. Bei Wolff passierte das schmerzlos während der Aufnahmen.“

Ähnlich den Covers wirkt auch die Musik von Blue Note zeitlos modern. Mitverantwortlich dafür war die Aufnahmepraxis des heute fast 90-jährigen Toningenieurs Rudy Van Gelder. Sein Bestreben war es, die Aufnahmen möglichst den Verhältnissen von Livekonzerten anzunähern. Mit raffinierter Mikrofonierung setzte er die Akzente in Lautstärke und Klangspektrum. Van Gelder schaffte es, einen Sound zu erzeugen, der sowohl dem Timbre der gesamten Band als auch den Eigentümlichkeiten der verschiedenen Solisten gerecht wurde.

Zum eigentlichen Markenzeichen Van Gelders entwickelte sich aber sein Pianoklang. Das Klavier war verlässlich als tonaler Anker des Ensembles positioniert. Kein Wunder, dass Pianogötter wie Duke Pearson, Andrew Hill und Herbie Hancock auf Blue Note veröffentlichten.

Abgesehen von der Güte des Klanges war es natürlich die Kraft der Komposition, die die Menschen in ihren Bann zog. Bei Blue Note konnte man sich stets darauf verlassen, dass auf den Alben hervorragend gespielte Musik drauf war. Die Soli dauerten nie so lange wie auf den Erzeugnissen der Konkurrenz wie Verve und Prestige. Reife Musiker wie der 88-jährige, immer noch fidele Saxofonist Lou Donaldson wissen noch, worauf Lion besonderen Wert legte. „It must schwing“, hat er seine Musiker stets mit dem nie abgelegten deutschen Akzent beschworen.


Fusion und Hard-Bop: der neue Klang.
Nach 26 Jahren des unermüdlichen Produzierens verkaufte Alfred Lion seine Firma 1965 an Liberty. Zwei Jahre arbeitete er noch weiter, dann ging er in den Ruhestand. Zu Beginn der Siebzigerjahre übernahm der afroamerikanische Produzent George Butler die Geschicke des Traditionslabels. Er schaffte mit zarter Fusion von Jazz, Funk und Latin einen neuerlichen Höhenflug. Donald Byrds Fusion-Alben „Blackbyrd“ und „Spaces And Places“ entwickelten sich zu Millionensellern.

Mit Hard-Bop-Königen wie Horace Silver und Bobby Hutcherson schuf er ebenfalls die Wende zu einem neuen Sound. Wichtig waren auch seine Neuentdeckungen. Dazu zählten die Flötistin Bobbi Humphrey, der Gitarrist Earl Klugh, die Sängerin Marlena Shaw und der Saxofonist Ronnie Laws.


Viel Geld mit neuen Sängerinnen. 1984 übernahm Bruce Lundvall die Geschicke von Blue Note. Anders als Alfred Lion, der nur zweimal mit Sängerinnen, namentlich mit Sheila Jordan und Dodo Green, arbeitete, setzte er auf Gesang. Zu seinen Meriten zählt die Entdeckung und Verpflichtung von Cassandra Wilson und Norah Jones, was Blue Note sehr viel Geld einbrachte. Lundvalls Ära profitierte auch davon, dass das gesamte Repertoire nochmals auf CD ediert wurde.

In den Neunzigerjahren reüssierte das patinierte Jazzlabel durch den Hip-Hop. 1993 schafften die britischen Rapper US3 mit der Single „Cantaloop“ einen Welthit. Diese seichte Adaption von Herbie Hancocks „Cantaloupe Island“ stürmte weltweit die Hitparaden. Auch der amerikanische Hip-Hop begann Blue Note zu samplen. Stetsasonic, De La Soul und die Beastie Boys taten dies mit künstlerischem Erfolg. Rapper Guru von Gang Starr ging mit seinem Projekt Jazzamatazz gar mit Trompetenlegende Donald Byrd auf Welttournee.

Die Gegenwart sieht auch klasse aus. Mit der Übernahme durch den Vollblutmusiker Don Was scheint Blue Note solide abgesichert, ohne dass der Ruhm der Vergangenheit verblassen müsste. Alter „Schwing“ und neue Soulfulness gehen unter ihm eine prächtige Allianz ein.

Die blaue Note

Blue Notes heißen Töne bzw. Intervalle, die in besonderem Maß den Blues-Charakter von Melodien prägen. Im engeren Sinn sind das die kleine Terz, die kleine Septime und die verminderte Quinte (Tritonus).

Die Intonation dieser Intervalle ist aber anders als im westlichen Tonsystem. Sie wird auf eine pentatonische Tonleiter afrikanischer Herkunft zurückgeführt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.08.2014)

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