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Cristina Scuccia: Wie sinnlich dürfen Nonnen singen?

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Die 25-jährige Cristina Scuccia, durch eine Castingshow bekannt geworden, singt erfolgreich Lieder wie Madonnas „Like a Virgin“ und hat nun ihr erstes Album veröffentlicht.

Brav klingt sie nicht, die Stimme von Cristina Scuccia, nein – selbstbewusst, stark, oft verführerisch, immer intensiv. Abgesehen davon, dass hier eine gute Sängerin am Werk ist, fällt einem aber beim Hören ihres ersten Albums nichts Außergewöhnliches auf; kein Laut durchkreuzt den visuellen Reflex der Zuhörer, sich eine erotisch gekleidete Sängerin vorzustellen, die hier Lieder wie Madonnas „Like a Virgin“ oder Cindy Laupers „True Colours“ singt – statt einer jungen Frau in der Ordenstracht der Ursulinen.

„Sister Cristina“ ist seit heuer die Sensation im Bereich christlicher Kunst – zumindest, was ihre Wirkung auf die (auch nicht christliche) Öffentlichkeit betrifft. Im Frühjahr begeisterte die 25-jährige italienische Nonne bei der Castingshow „Voice of Italy“ das Publikum mit Alicia Keys Song „No One“. Das Video ihres Auftritts erntete innerhalb weniger Wochen auf YouTube 50 Millionen Klicks, danach gewann sie in der zweiten Staffel der Show auch das Finale. Besonders kontrovers diskutiert wurde, dass sie Madonnas „Like a Virgin“ sang und nun auch als Single veröffentlicht hat – ein Lied, in dem christliche Symbole wie Maria und Kruzifix in einen explizit sexuellen Zusammenhang gestellt werden.

Video: "Like a Virgin" von Sister Cristina

Wie sinnlich ist christliche Ekstase?

Jetzt hat Cristina Scuccia ihr erstes, schlicht „Sister Cristina“ betiteltes Album veröffentlicht, mit Neuinterpretationen berühmter Lieder wie „Fix You“ von Coldplay, „Price Tag“ von Jessie J, „I Surrender“ von Céline Dion oder eben „Like a Virgin“ – und man staunt, wie ungezwungen diese von Aufbruch, Liebe, Mut, Hingabe, Suche und anderen existenziellen Themen handelnden Texte einen christlichen Sinn bekommen – was nicht verwundern sollte: Auch die Liebestexte christlicher Mystiker kann man auf sehr unterschiedliche Weise lesen (Hildegard von Bingen zum Beispiel wird gern die erste Beschreibung eines weiblichen Orgasmus bescheinigt); sie sind mindestens so voller Seufzer und Ekstasen wie die Popsongs, die Cristina Scuccia neu interpretiert. Wäre zum Beispiel nicht das Wort „boy“ in Madonnas Lied, man könnte seinen Inhalt ganz als Hohelied christlicher (Gottes-)Liebe deuten.

„Sister Cristina“ ist auch nicht die erste singende Nonne im Musikgeschäft, aber ihre Karriere wird hoffentlich glücklicher enden als die ihrer in strengeren Zeiten singenden belgischen Vorläuferin Jeanne-Paule Marie: Diese wurde unter dem Namen „Soeur Sourire“ Anfang der 1960er-Jahre berühmt. Sie hatte einen Plattenvertrag mit Philips, ihr Lied „Dominique“ war in Belgien und den USA an der Spitze der Hitparade und gewann einen Grammy, ihr Leben wurde verfilmt. Aber der Orden verbot ihr einen neuen Plattenvertrag, sie verließ das Kloster, war als Nichtnonne für das Publikum nicht mehr interessant und beging schließlich mit ihrer Lebensgefährtin Selbstmord.

Sister Cristina steht aber noch einer anderen Exnonne nahe – der Novizin Julie Andrews, die sich durch den Film „Sound of Music“ singt. Als Erzieherin verzaubert und wandelt sie Baron Trapp und seine Kinder, mit denen sie einen Chor gründet. Nonne bleibt sie nicht, aber Botschafterin der (christlichen) Liebe schon, und als solche erreicht sie auch ein nicht christliches Publikum.

Gottes Strafe: Keine Musik

„Wenn wir Unrecht begehen, wird Gott uns ohne Musik zurücklassen“, zitierte der Präsident des Päpstlichen Kulturrates, Kardinal Gianfranco Ravasi auf Twitter den spätantiken Gelehrten Cassiodor, zur Verteidigung von „Sister Cristina“. Cristina Scuccia will, wie sie sagt, das Wort Gottes zu den Menschen bringen, mithilfe von Musik, die jeder versteht. Dass sie mit „Like a Virgin“ gerade das Jungfrauenthema ins Spiel bringt, passt gut zu den Legenden um die Patronin der Musik Cäcilie, die, wie in den Legenden betont wird, Jungfrau war. In Kleists Novelle „Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik“ sorgt die Heilige dafür, dass Nonnen mit ihrem Gesang vier Bilderstürmer im Dom von Aachen betören und zum wahren Glauben bekehren.

Ob „Sister Cristina“ mit ihrem Gesang jemanden bekehren wird? Gut möglich, sogar sehr wahrscheinlich – auch wenn sie auf das Gros des Publikums wohl nur eine sehr kurzlebige Faszination ausübt: die des Kontrasts zwischen dem lustfeindlichen Ruf der Religion und dem lustvollen Auftreten eines ihrer Vertreter. Auch das machte Filme wie „Sister Act“ mit Whoopi Goldberg oder den Musicalfilm „Going my Way“ mit Bing Crosby als singendem Priester so erfolgreich.

Auch in anderen Religionen gibt es Grenzgänger wie Cristina Scuccia, etwa den türkischen Imam Ahmet Muhsin Tuzer, Gründer und Frontman der Band Firock. Sein Zugang zur Popmusik ist ähnlich unkompliziert wie der ihre: „Sobald Musik Menschen spirituell positiv beeinflusst, kann sie als Gottesdienst gelten.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.11.2014)

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