Pop

Benjamin Clementine: Nachtigall aus bitterer Armut

(c) Mickey Clement
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„Aus dem absoluten Nichts“ sei er geboren, singt Benjamin Clementine: Als Obdachloser und Straßenmusiker in Paris reifte er zum Komponisten ganz eigenartiger Lieder.

Was für eine Erscheinung! Seit Grace Jones hat die Popmusik keinen imposanteren dunkelhäutigen Künstler gesehen. Markante Backenknochen, winzige Ohren und eine Körpergröße von ca. 1,95 Meter. Seine oft ansatzlos von jugendlichem Tenor ins Falsett wechselnde Stimme erweckt Assoziationen zu Nina Simone, Odetta und Antony Hegarty. Schuhe trägt Benjamin Clementine selten. Zur Kompensation hat dieser Riese aber eine Frisur von kühner Architektur . . .

Bis vor ein paar Monaten hat er sich als eine Art Kaspar Hauser der Musik dargestellt, (wahre) Geschichten von Obdachlosigkeit und Straßenmusik in Paris erzählt. Davon nimmt er jetzt, nach der umjubelten Veröffentlichung seines Debüts „At Least For Now“, Abstand: Wilde Anekdoten sollen seine Musik nicht in den Schatten stellen. Immerhin ging ihm in Frankreich der Knopf auf: Nach Jahren des orientierungslosen Tingelns besann sich dieser Fan von Erik Satie und William Blake darauf, sein Repertoire ab sofort selbst zu komponieren. Bis auf einen kleinen Eklat bei den Filmfestspielen Cannes, wo er einen Auftritt abbrach, weil die Reichen und Schönen nicht zuhören wollten, war Frankreich sehr gut zu ihm.

Hier wurde der Autodidakt Clementine zum ersten Mal als das erkannt, was er ist: ein Künstler von ganz eigener Statur. Jetzt ist der 26-Jährige zurück in Edmonton, einem von Industrie verschandelten Arbeiterviertel in Nordlondon, wo er, als eines von fünf Kindern eines ghanaischen Ehepaars aufgewachsen ist. Die bitterarmen Eltern hatten eine Karriere in der Justiz oder in der Medizin für ihn erträumt. Ihre Erziehung war streng. Radiohören und Fernsehen war stark beschränkt. Dennoch sah Clementine einmal im TV, wie Antony Hegarty „Hope There's Someone“ sang. Ein andermal erwischte er eine Dokumentation über Erik Satie, die ihn tief beeindruckte. Das Klavierspiel musste er sich heimlich am Instrument eines Bruders beibringen. So sind seine Akkorde an vielen Stellen von minimalistischer Anmutung. Der Vorteil? Sie kühlen das Pathos ab, das Clementine mit seiner erratischen Stimme auftürmt.

„Winston Churchill's Boy“

Sein erster Auftritt in der Fernsehshow von Jools Holland geriet zu einer Sensation: Paul McCartney, ebenfalls Gast der Show, war in der Sekunde von ihm begeistert. Auf Spotify wurden seine Lieder danach extrem oft aufgerufen. Es ist diese gewisse Spannung zwischen Kargheit und Opulenz, die sie auszeichnet. Auf den Schwingen einer eleganten Mollpassage erheben sich etwa in „Winston Churchill's Boy“ erstaunliche Einsichten. Seine Philosophie kratzt am Ätherischen: „Never in the field of human affection had so much been given for so few attention.“ In seinen fünf Jahren in Frankreich hat er, dessen Songs raffinierte Hybride aus Chanson, Jazzstandard, Kunstlied und Popsong sind, begriffen, wie wichtig subtile Lyrik ist. „We all make a living by what we get, but we make life by what we give“ heißt es eine Strophe weiter. Das klingt wie der Versuch eines Menschen, sich von sich selbst zu heilen.

Das vielleicht eindrucksvollste Lied auf diesem reuelos melancholischen Album heißt „Condolence“. Es ist Clementines bewusster Abschied von den Unsicherheiten und Ängsten seiner Jugend. Furchtlos bedenkt er hier das Werden und Zugrundegehen. Seine dramatische Meditation gipfelt im Satz „And then out of absolutely nothing, I, Benjamin, I was born.“ Und wenn er dereinst was sein solle, dann, so schwört er in stolzem Duktus, dann werde er sich stets daran erinnern, dass er aus dem Nichts kommt.

In diesem Licht überrascht nicht weiter, dass er schon jetzt weiß, was an seinem Grab gespielt werden soll: „The Lark Ascending“ vom britischen Komponisten Ralph Vaughan Williams, eine impressionistische Etüde, die 1914 von der „Times“ streng getadelt wurde: „It showed supreme disregard for the ways of today or yesterday. It dreamed itself along.“ Das könnte man ohne Weiteres auch Clementines Musik vorwerfen. Seine molltriefenden Lieder imaginieren, passend zum kalten geistigen Klima in der westlichen Welt, karge Landstriche, in denen wenig von menschlicher Teilnahme spürbar ist. Aber man ahnt es schon, Clementines Helden geben nicht viel darauf. Ihr Motto ist: „Just quiver a little, then burst in laughter!“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.04.2015)

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