Pop

Chemical Brothers: Kampf dem Wohlfühltechno

(c) Universal Music
  • Drucken

Die Chemical Brothers kehren nach Jahren der Absenz zurück. Rechtzeitig, um dem Techno-House-Biedermeier den Garaus zu machen.

Osnabrück war schon in den 1920er-Jahren im Zentrum einer modischen Bewegung: Die dort ansässige Bekleidungsfirma Solida entwickelte die Kleiderschürze. Dieses vorn artig zugeknöpfte oder zugezippte Kleidungsstück war jahrzehntelang ein Inbegriff von Spießigkeit. „Die Umsätze stiegen wie der Rocksaum der Frauen“, jubelte das Fachmagazin „Mit Nadel und Faden“. Heute, da die oft geblümte Kleiderschürze nur mehr auf entlegenen Bauernhöfen zu finden ist, hat sich der Osnabrücker Biedersinn auf etwas ganz anderes kapriziert: aufs Weichspülen von Technosounds.

Erfolgreichster Protagonist dieser Verharmlosungsrevolution ist bislang DJ Robin Schulz aus Osnabrück, der mit seinen Wohlfühltechno-Remixen von „Waves“ und „Prayer in C“ zweimal den Spitzenplatz der britischen Charts erobern konnte. Das muss für die aus Manchester stammenden Chemical Brothers schmerzvoll gewesen sein. Seit 1989 kämpfen sie tapfer dafür, dass der „winter of discontent“ sein Abbild in den Charts findet. Seite an Seite mit The Prodigy und Fatboy Slim verscheuchten sie in ihrer Anfangszeit die popkulturelle Dominanz des Gitarrenrocks à la Oasis. Mit ihren heftig böllernden Soundscapes, die sie seit 1989, zunächst als Dust Brothers, verfertigten, errichteten sie unpopulären Gefühlslagen wie Angst und Paranoia, Groll und Aggression mächtige Mahnmale, schmuggelten das Missvergnügen in der britischen Gesellschaft auf den Dancefloor.

Nach fünf Jahren der Stille – sieht man von ihrer Filmarbeit „Don't Think“ (2012) ab – wähnte sie mancher Altfan schon verstummt. Doch nun kehren sie mit „Born In The Echoes“, ihrem achten Album, triumphal in die Arena des Kulturkampfes zurück. Ganz so, als wollten sie ganz allein das Virus der globalen Verschulzisierung neutralisieren.

Tom Rowlands und Ed Simons, die Protagonisten der Chemical Brothers, haben drei Jahre lang am richtigen Sound gefeilt und geraten gern in Emphase, wenn sie darüber sprechen. Beim Finalisieren des ersten Tracks „Sometimes I Feel So Deserted“ bekamen sie ein Gefühl, in welche Richtung es zu gehen hatte. „A white-knuckled peak time anthem“, schwärmten hübsch unübersetzbar britische Medien. Dass die vorab damit ausgestatteten DJs dieses Monster von Song, das ohne durchgehende Basslinie und Basstrommel auskommt, so freudvoll in der Hauptzeit in den Clubs einsetzten, gab Rowlands und Simons Auftrieb: „Es war eine bewusste Entscheidung, dieses Stück nicht zu überladen. Es sollte sich anhören, als versuchte eine Band mit nicht ganz eingesteckten Instrumenten, eine Technonummer zu spielen. Also anders als das, was man heute sonst in Clubs hört“, schwärmt Rowlands.

Platz eins

Die beiden recht brav aussehenden Musiker gingen mit einem Ungestüm zur Sache, das durchaus an ihr Debütalbum „Exit Planet Dust“ (1995) erinnert. Dies wurde auch an der Kasse belohnt. „Born In The Echoes“ kam auf Platz eins der britischen Charts. Wieder einmal. Nur eigene Fauxpas wie beim letzten Opus „Further“ können sie vom Spitzenplatz weghalten. Damals begingen sie den Fehler, dem Album ein Preisausschreiben beizufügen. Deshalb wurden sie von den Charts ausgeschlossen. Jetzt sind sie zum sechsten Mal ganz oben. Eine schöne Genugtuung für Musiker, die von der britischen Presse schon mehrmals ins Ausgedinge geschickt worden sind.

Obwohl sie sich selbst als Teil einer historischen Umwälzung verstehen, bleiben sie nicht im leeren Gestus des Renegatentums stecken. Im herrlich schnalzenden „Go“ blicken sie freudig auf kulturelle Bruchstellen der jüngeren Geschichte. Intoniert hat es A-Tribe-Called-Quest-Rapper Q-Tip, der 2005 schon „Galvanize“ mit seiner urbanen Quecksilbrigkeit adelte. Auf den Schwingen seines trotz aller Hochspannung doch irgendwie stoischen Wortflusses geht es zurück in Zeiten, als die Models noch Mannequins genannt wurden: „We breakin' the codes similar to the Jacques Cousteau“, heißt es charmant über einem böse knarzenden Geräuschteppich. Irgendwann herrscht dann doch emotionaler Ausnahmezustand: „Can't think, can't sleep, can't breathe“ klagt Q-Tip, ehe er den Finger in aktuelle Wunden legt: „Everything gettin' harder to find, everybody goin' out of they (sic!) skins.“ Trotz Technicolor-Soul-Refrain explodiert dann ein Tank in der Tiefe des Meeres. Eine Vielzahl an rätselhaften Geräuschen wird frei, die die Chemical Brothers in markante Grooves verwandeln.

Wut und Frustration

Diese Form von Alchimie beherrschen sie immer noch traumwandlerisch. „Just Bang“ kurvt in den Rillen des frühen Chicago Deep House. Und das blubbernde „EML Ritual“ überrascht mit murmelndem Singsang, wie er in der orthodoxen Liturgie zelebriert wird. „I don't know what to do, I'm going to lose my mind.“ Schöne Grüße vom Rand des Nervenzusammenbruchs. Die fiepsenden Maschinengeräusche illustrieren hier nicht bloß, sie kommentieren das Drama. Auch die aktuelle Musik der Chemical Brothers wurde nicht nach Bedarfserhebungen konstruiert. Sie ist aus Wut und Frustration geboren. „Some of the tunes are instinct records – they're not trying to be everything to everyone“, konstatiert Rowlands. Um bessere Fühlung mit ihren Wurzeln zu bekommen, haben die Chemical Brothers für die Aufnahmen von „Born In The Echoes“ eine Unzahl an alten, halb kaputten Gerätschaften zusammengekarrt: früher von ihnen verwendete Sequencer, Akai Sampler, Drum Machines. Mit diesem antiquierten Equipment innovative Sounds zu kreieren, das war eine nicht zu geringe Herausforderung.

Die tosende Erlebniskunst der Chemical Brothers kennt aber auch Momente der inneren Einkehr. Beim von St. Vitus gehauchten „Under Neon Lights“ und dem von Beck gesungenen „Wide Open“ ahnt man, dass auch Big-Beat-Raver vom Schlage der Chemical Brothers ihre stillen Momente haben. Und diese zelebrieren sie erwartungsgemäß keine Spur zugezippt. Weiche Osnabrück, weiche!

Steckbrief

The Chemical Brothers wurden 1989 von den Upper-Middle-Class-Burschen Tom Rowlands und Ed Simons in Manchester gegründet. Neben dem Studium der mittelalterlichen Geschichten legten sie zunächst Platten im berühmten Haçienda-Club auf.

Ab 1993 machten sie erste Remixe unter dem Namen Dust Brothers. 1994 legten sie im Albany Pub in London auf. Noel Gallagher, Paul Weller und Tim Burgess waren Stammgäste.

1995 erschien das erste Chemical-Brothers-Album „Exit Planet Dust“.

2015. „Born In The Echoes“ ist ihr achtes Album. Am 20. August stellen sie es beim Frequency-Festival in St. Pölten vor.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.08.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.