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Popmusik: Die Macht des Schlafs und seiner Lieder

Schlafende Frau
Schlafende Frau(c) Clemens Fabry
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Der Schlaf – mal bedrohlich, mal beseligend – wird auf vielfältige Weise in der Popmusik abgebildet. Etwa als Rückzugsstätte des Idealen oder als Labor unbewusster Ängste.

Der in Deutschland geborene, britische Musiker Max Richter ist für sein eklektisches Wirken bekannt. Der Schüler von Luciano Berio liebte stets auch Zeitgenössisches. Nun präsentierte er mit „Sleep“ seine bislang spektakulärste Arbeit, ein achtstündiges „lullaby for a frenetic world“, das er am 26. September zur Geisterstunde in London in voller Länge spielte. Für die Hörer ließ er Feldbetten aufstellen. Sie sollten den Feinheiten seiner zart repetitiven Musik möglichst schlafend nachsinnen. Die Deutsche Grammophon brachte jüngst eine CD mit Auszügen von „Sleep“ auf den Markt. Auf dem Cover kommt der leicht defätistische Zauberer Prospero aus Shakespeares „Sturm“ zu Wort: „Wir sind solch Zeug, woraus Träume gemacht werden, und unser kleines Leben endet sich in einen Schlaf .“


Angst vor Morpheus Armen. Das Bedrohliche des Schlafs war auch zentrales Thema des vielleicht ungewöhnlichsten Schlummerlieds der Popgeschichte. Metallicas „Enter Sandman“ hat so gar nichts vom hypnotischen Um-sich-selbst-Kreisen sanfter musikalischer Motive. Das Lied ist stattdessen mit einem maliziösen Gitarrenriff ausgestattet. Die Mission lautet hier: Nur ja nicht zu nahe an den Rand des Schlafs geraten. „Sleep with one eye open, gripping your pillow tight. Exit, light. Enter, night. Take my hand, we're off to never-never land“, grollt James Hetfield den bedrohlichen Armen von Morpheus. Von einem nicht enden wollenden Albtraum singt auch Ex-Velvet-Underground-Violaspieler John Cale in „The Sleeper“. Die unsicheren Gefühle einer dysfunktionalen Liebesaffäre lassen sich darin nicht einmal im Schlaf abstellen. Der aus dem Lot gekommene Seelenfrieden wird von einem absichtlich billig klingenden Synthesizer und dissoziierten Bassmotiven ideal illustriert. „And you try to forget your past, but it's just adding to your pain“, lautet die niederschmetternde Conclusio. Kein Erbarmen hat die Nacht auch mit der libanesischen Bluesband The Wanton Biships im Song „Sleep with the Lights on“. „I cleaned my act for judgement day“, heißt es da zunächst hoffnungsvoll. Dennoch leben die Verlustgefühle nach einer beendeten Beziehung in nocturnen Gegenwelten neu auf. So sehr, dass auch hier die Angst vor dem Einschlafen aufkommt. „Sleep with the lights on“, singt Nader Mansour. Dem bedrohlichen Sturz ins Unbewusste wird hier ein kleines Nachtlicht entgegensetzt. Es soll der eventuell rasch notwendigen Rückkehr ins Bewusstsein dienlich sein.

Kehrseite des profanen Lebens. Wesentlich vertrauensvoller war da der britische Folksänger Donovan. In seinem simpel „Sleep“ betitelten Song fokussiert er die erquickenden Qualitäten der Erneuerung. „Sleep now, sleep and so fade away the sorrow, sleep beloved“, schwärmt er von der Heilkraft des nächtlichen Aufenthalts in den Tiefen des Unbewussten. Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy hat in seinem Bändchen „Vom Schlaf“ die Pforte zur anderen Seite unseres Ich, die der Schlaf öffnet, so definiert: „Ich falle ins Innere meines Selbst: meiner Müdigkeit, meiner Langeweile, meiner erschöpfenden Lust, meines erschöpfenden Leids. Ich gleite als Ganzes ins Innerste und ins Äußerste von mir und lösche dabei die Aufteilung dieser beiden vermeintlichen Regionen aus.“ Donovan definierte das Reich des Schlafes ganz in diesem Sinn als „eternal home“. Auch für Nick Cave steht der Schlummer für unsere im täglichen Leben verloren gegangene Fühlung mit dem Idealen. Er verführt die potenzielle Geliebte, der er im realen Leben wenig bieten kann, ins Reich des Schlafs. In der von einem wunderbaren Xylofon ausgeschmückten Ballade „Come into my Sleep“ lockt er brummelnd in die Schluchten des Unbewussten: „Now that mountains of meaningless words and oceans divide us, and we each have our own set of stars to comfort and guide us, come into my sleep.“

Lullabys. Um zu dieser weltvergessenen Kehrseite unseres Lebens zu gelangen, bedarf es einer gewissen Ruhe. Sie ist oft besser mit sanfter Musik als mit brüllender Stille zu erreichen. Das Wissen um die Macht des Lullabys wurde früh zu Geld gemacht. Nicht nur von den Jazzcroonern der Dreißiger- und Vierzigerjahre, die die unheilvollen „Long and Sleepless Nights“ behutsam romantisierten. Bald waren es auch kommerzielle Firmen, deren Geschäftsmodell auf musikalischen Einschlafhilfen basierte. Etwa die 1934 gegründete Firma Muzak Holdings LLC, die nicht nur Musik zur Stimulation der Einkaufslust in Kaufhäusern verhökerte, sondern auch Hintergrundmusik für Fahrstühle und Entspannungslounges. Das heutige Äquivalent dazu sind Streamingplattformen wie Spotify, die Einschlaf-Playlists feilbieten. Kurios, dass dafür Künstler wie Rihanna, Ed Sheeran und Sam Smith angepriesen werden. Dann schon lieber ehrliche Ambientmusik à la Brian Eno oder jene der deutschen Elektronikpioniere Tangerine Dream, die auf ihrem Album „Stratosfear“ 1976 todesverachtend „The Big Sleep in Search of Hades“ propagierten.

Ihr Mastermind, Edgar Froese, im Jänner in Wien verstorben, setzt seine elektronischen Signale jetzt vielleicht schon von der anderen Seite. Andreas Spechtl, Sänger von Ja, Panik, musiziert aber noch munter im Diesseits. Auf seinem heuer erschienenen, „Sleep“ genannten Solowerk zelebriert er die Wonnen der körperlichen Regeneration, die der Schlaf schenkt. Sämtliche Stücke wurden in den frühen Morgenstunden aufgenommen. Da fühlte er eine, durch die Müdigkeit ausgelöste, besondere Sensibilität, die seinen inneren Zensor, der tagsüber waltet, kurzerhand außer Kraft setzt.

Nicht viele forcieren die Schlaflosigkeit. Meistens wird unter ihr gelitten. Das belegt zumindest die Popgeschichte. Es existieren weit mehr Lieder über Schlaflosigkeit als über den Schlaf selbst. So grübelte etwa der irische Barde Van Morrison 1973 in „Snow in San Anselmo“ über die Zerstreuungsmöglichkeiten von kalifornischen Schlaflosen: Klassische Musik, Massagesalon und Pancake House samt langgedienten Kellnerinnen schienen ihm am empfehlenswertesten. Zwei Jahre später variierte er das Thema in enigmatischer Weise in „Try for Sleep“ wieder. Blueser Gary Clark Jr. ist in „Can't Sleep“ nach der Begegnung mit einem Fräulein derart mit Verlustangst geschlagen, dass er nicht mehr einschlafen will. Während es Morrisey von The Smiths in „Asleep“ genau nach dem Gegenteil gelüstet. „Sing me to sleep and then leave me alone.“ Die Schlaflosigkeit, von der Dandy Bryan Ferry in „Both Ends Burning“ jault, ist, wie könnte es anders sein, durch die Pfeile Amors ausgelöst. Und beim Schotten Edwyn Collins verrutscht im rasanten „Losing Sleep“ etwas nicht Unwesentliches. „I'm losing sleep, I'm losing dignity“, heißt es da. Von Schlaflosigkeit Gefährdete sollten sich, geht es nach dem Philosophen Jean-Luc Nancy, ihrer Kindheit besinnen. Er sieht den Schlüssel für guten Schlaf im mütterlichen Wiegen der Kinder. „Es schläfert uns ein, weil der Schlaf in seinem Wesen selbst ein Wiegen ist, kein stabiler, unbeweglicher Zustand. Was zum Schlaf führt, hat die Form des Rhythmus, der Regelmäßigkeit und der Wiederholung.“ In diesem Sinn kann kein Ende von Ambientmusik, Chillsounds und Lullabys ausgerufen werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2015)

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