Pop

Wie Keith Jarrett seine Wut selbst therapierte

Keith Jarrett
Keith Jarrett Rose Anne Colavito/Jazz Fest Wien
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Nach anfänglichen Irritationen über fotografierende Vertreter des Publikums gab sich der Pianist bei seinem ersten Wiener Improvisationsabend seit Langem erst einmal dem musikalischen Furor hin.

Warum spielt ein großartiger Jazzpianist wie Keith Jarrett Konzerte? Abseits der Motivation, damit Geld zu verdienen, doch vor allem, um seine Kunst zu Gehör zu bringen. Nicht unbedingt, um dutzendfach mit Handykameras fotografiert zu werden. Dass das einen hypersensiblen und eigensinnigen Künstler wie Jarrett stören kann, ist ebenso verständlich wie der Wunsch mancher Konzertbesucher nach Erinnerungsfotos. „Ich werde keinen Ton spielen, bevor diese zwei Personen, die gerade noch Fotos gemacht haben, das Haus verlassen haben“, verkündete Jarrett am Sonntag im Musikverein zu Beginn seines Improvisationsabends – des ersten in Wien seit vielen Jahren übrigens.

Und das Unglaubliche geschah: Nach einiger Zeit erhob sich tatsächlich jemand. Damit hätte es sein Bewenden haben können, nein, müssen, denn wer Benehmen einfordert, der sollte es auch selbst an den Tag legen. Doch nach der Pause ging Keith Jarrett erneut zum Mikrofon: „Wegen solcher Leute, die sich die Freiheit anmaßen, überall stören zu können, ist die Welt so im Arsch“ (wörtlich: „fucked up“).

In einer Art Selbsttherapie setzte Jarrett seine Verärgerung zu Beginn des Abends auch gleich in Musik um. Statt, wie er es gern tut, von einem Nukleus an thematischem Material behutsam in die Musik hineinzuwandern, überzog er das Publikum erst einmal mit einem mehr als zehnminütigen Dauerbeschuss an Tönen. Hohes Tempo, keinerlei Halt- und kaum Orientierungspunkte, Chaos, Hektik, Anarchie. Sofort stellte sich die Assoziation ein: New York, Grand Central Station zur Rush Hour. Es war ein vielstimmiges Durcheinander, das Jarretts Händen entspross, und es klang keineswegs, als verfüge er nur über deren zwei.

Die Zeit wird außer Kraft gesetzt

Doch der pianistische Frontalangriff endete so abrupt, wie er begonnen hatte – und gab einem ruhigeren, wenn auch noch immer eine Richtung suchenden Fortschreiten Raum, bis er im dritten Stück dann zur Ruhe kam: Wo zuerst so viel (an Tönen) passierte, ohne dass recht viel gesagt wurde, war es nun umgekehrt: Mit rigider Sparsamkeit führte Jarrett vor, wie wenige Töne man für reichhaltige musikalische Aussagen braucht. Schon nach den ersten drei Stücken wurde deutlich, worin Jarretts große Stärke besteht: Er vermag es, scheinbar die Zeit außer Kraft zu setzen und – auch hier autoritär, allerdings auf positive Weise – dem Publikum sein Zeitmaß aufzuzwingen. Eines, dem man sich getrost überantworten kann. Über viele Minuten schafft es Jarrett etwa im zweiten Teil, die Linien in beiden Händen in einer unglaublichen Spannung gegeneinanderzuführen. Die intensive Beschäftigung mit Bach hat hier hörbar ihre Spuren hinterlassen. Bezwingend, wie es Jarrett immer wieder gelingt, zunächst zufällig erscheinende Bewegungen ganz unmerklich zu einem Pfad zu verdichten, der sich dann in der Rückschau ganz zwangsläufig ausnimmt.

Wirklich bei sich und in sich ruhend, wirkte er allerdings erst nach der Pause (dass er es vorher nicht war, ließ er wissen), als er sich über weite Strecken dem poetischen Fabulieren hingab, für das ihn sein Publikum so liebt. Als er bei der dritten Zugabe leichtfüßig irgendwo über dem Regenbogen spazierte, schien seine Welt fast wieder in Ordnung. Aber es musste noch einmal sein: „Danke an alle, die nicht fotografiert haben: Ihr müsst euch so stark und clever fühlen.“ Schon gut, wir haben es verstanden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.07.2016)

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