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Nach alten Rezepten: Jazz isst sich selbst

Blick zurück nach New Orleans: Trompeter Steven Bernstein mit seiner „Hot 9“ beim letzten Konzert des 37. Jazzfestivals in Saalfelden.
Blick zurück nach New Orleans: Trompeter Steven Bernstein mit seiner „Hot 9“ beim letzten Konzert des 37. Jazzfestivals in Saalfelden. (c) Jazzfestival Saalfelden/Manfred Koppensteiner
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Wenn schon retro, dann wirklich: Am Ende des heurigen Jazzfestivals im Pinzgau ging's zurück nach New Orleans. In den drei Tagen davor hörte man viel Verspieltes, viel Routine in der Ekstase – und nur wenig Willen zum Stil.

Wie unterscheidet sich das Publikum eines klassischen Jazzfestivals – wie es das in Saalfelden zweifellos ist – von den Künstlern? Auf jeden Fall durch die Geschlechterverteilung. Während diese im Saal halbwegs ausgewogen ist, dominiert auf der Bühne das Y-Chromosom. Heuer in Saalfelden traten im Kongresszentrum und im Kunsthaus Nexus 92 Männer und fünf Frauen auf, das ist ein Frauenanteil von 5,1 Prozent.

Früher war auch ein Geschmacksgefälle im Äußeren typisch: Die Musiker, besonders die afroamerikanischen, zeigten deutlich mehr Stil (keine beigen kurzen Hosen!) als die Zuhörer. Das hat sich ausgeglichen. Dafür ist ein anderer Unterschied augenfällig: Das Publikum ist – im Durchschnitt natürlich – deutlich älter als die Künstler. Überspitzt könnte man sagen: Jazz ist heute eine Musik, die junge Leute am Konservatorium lernen und damit ältere Leute an die (musikalischen) Abenteuer ihrer Jugend erinnern . . .

„I tried to learn from the past masters as much as I could“, erklärte treuherzig der österreichische Bassist Lukas Kranzelbinder, der das Festival eröffnete. Das hörte man: Ob seine Band Shake Stew durch Cooljazz-Nebel wanderte oder über Rockjazz-Gebirge, ob sie Freejazz predigte oder Hardbop, sie trug immer einen schweren Rucksack der Jazztradition. Die einst gepflegte Vorstellung, dass ein Musiker sich einen persönlichen Stil suchen müsse, scheint obsolet: Wie denn, man muss ja zeigen, dass man alle Stile beherrscht!

Wie fremd das Ideal von Eigenständigkeit geworden ist, illustrierte auch der viel gelobte junge französische Saxofonist ?mile Parisien: Er nahm sich mit Michel Portal sein großes Vorbild gleich mit auf die Bühne, schmiegte seine wehmütigen Linien an dessen Melodien, meist in den typischen, oft etwas zickig wirkenden Beinahe-Unisoni, die, einst im Bebop geprägt, in der heurigen Jazzsaison offenbar verpflichtend sind.

Elegant: Vincent Courtois

Dem seit Jahren anhaltenden Megatrend zur Stillosigkeit – das Wort ist nicht unbedingt abwertend gemeint, viele Musiker erklären ja selbst, sie wollten sich nicht in eine stilistische Schublade sperren lassen – widersetzten sich heuer nur wenige. Darunter Vincent Courtois: Schwelgerisch in der Eleganz, elegant im Schwelgen verfolgte er die Idee eines spezifisch europäischen Jazz bis zur abendlichen Dekadenz; die Saxofonisten Daniel Erdmann und Robin Fincker kosteten jeden Ton in Sonorität aus, prüften ihn auf sein melancholisches Potenzial, bis schließlich nur mehr ein wehmütiges Hauchen blieb, Wind und Meer.

Gar nicht elegant, aber auch von heftigem Stilwillen getrieben ist das norwegische Trio Krokofant: Rockjazz, der jedes Pathos des Aufbruchs verloren hat, der auch keine Richtung mehr kennt. Die Solos des Gitarristen Tom Hasslan tobten so uferlos, ja: sinnlos, dass man in einen meditativen Strudel zu stürzen glaubte; dazu erfreute Jørgen Mathisen, wenn er nicht mit dem Saxofon schrie, mit störrischen Linien auf einem Korg-Synthesizer, wie ihn der frühe Postpunk liebte.

An den späten Postpunk der US-Provinz und dessen Flirt mit dem Jazz erinnerte dagegen das Quartett Human Feel. Es stammt aus den späten Achtzigerjahren, nun hat es sich reformiert und spielt unverdrossen seine betont virtuose Musik, die man vielleicht als Jazzrock mit Kapperl und kariertem Hemd charakterisieren könnte. Mit viel Routine in der Ekstase. Diese konnte man überhaupt vielen Ensembles heuer in Saalfelden attestieren. Immerhin kichern sie nicht dabei: Die postmoderne Ironie, die vor zehn Jahren im Jazz so beliebt war, ist rarer geworden. Einen kleinen Nachtrag dazu brachte das österreichische Trio Edi Nulz: Bei aller Skepsis gegenüber musikalischem Humor, sein Comicstripjazz in Stücken wie „Sitcommander Otto“ oder „ . . . und das Geheimnis der Achtelnoten“ kitzelt das Hirn erfolgreich.

Fesselnd: Koreanischer Gesang

Hörte man gar nichts Unerhörtes in Saalfelden? Teilweise beim Quartett von Andreas Schaerer, der mit seinem hypernervösen Scatgesang wie ein psychotischer Al Jarreau wirkt, manisch und depressiv zugleich. Noch verwirrender, fremder wirkte der Gesang des Koreaners Bae il Dong im Trio Chiri. Er sang, so wurde erklärt, ein Liebeslied, ein Grablied und ein Märchen, doch es klang wie apokalyptische Warnungen. Ob Menschen aus seinem Kulturkreis das anders hören? Oder verstehen nur Außerirdische diese Schreie?

Dem Werk des großen Außerirdischen des Jazz, des laut eigener Aussage vom Saturn stammenden Sun Ra (1914–1993), widmete sich Thomas de Pourquery: Mit kleiner Band stellte er dessen Orchesterarrangements überraschend stimmig nach, ließ die stellaren Mantras („Space is the place“) erfreulich unironisch skandieren. Leider verzichtete sein Ensemble darauf, wie einst das Sun Ra Arkestra durch das Publikum zu marschieren.

Das tat anderntags beim letzten, zu Recht umjubelten Konzert die „Hot 9“ von Henry Butler und Steven Bernstein. Ihr Programm „Viper's Drag“ schien zu sagen: Wenn schon retro, wie es offenbar unvermeidlich im heutigen Jazz ist, dann gleich „all the way back“. Nach New Orleans, zu den Wurzeln. In eine selige Vergangenheit also, die es natürlich nie so gegeben hat, wie Butler und Bernstein sie nachempfinden. Man kann nicht so tun, als ob Swing, Bebop, Freejazz etc. nicht passiert wären. Das wissen sie, das unterscheidet ihre Beschwörung des Ahnengeists von klassizistischen Projekten wie jenen von Wynton Marsalis. „Die meisten Leute glauben, dass Jelly Roll Morton dieses Stück geschrieben hat“, sagte Butler vor dem „Buddy Bolden's Blues“, „aber die Wahrheit ist: Ich habe es getan, damals, im Jahr 1902.“

Will sagen: Man kann die Tradition nicht hüten, man kann sie nur neu erfinden, hier und jetzt. An dieser Idee hängt der Jazz, seit seine Stilgeschichte abgeschlossen ist, an dieser Idee hängt auch das Jazzfestival Saalfelden. Von dem man sich vor allem eines wünscht: dass es wie in seiner großen Vergangenheit wieder mehr auf größere Werke setzt, die ihre Inspiration möglichst nicht nur im Jazz selbst suchen. Damit dieser nicht nur von seiner eigenen Geschichte zehrt. Vielleicht finden sich dann auch wieder so viele junge Menschen vor wie auf der Bühne.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2016)

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