Pop

Das Album im europäischen Exil

(c) APA/SPENCER PLATT
  • Drucken

In den USA boomen Singlehits, Europa präferiert die Kunstform Album. Immer mehr amerikanische Popkünstler verlegen ihr Wirkungsgebiet nach Übersee.

Welcome to the music business: a world of greed, corruption, self-interest and fun,“ steht auf dem Buchdeckel von „Ta-Ra-Ra-Boom-De-Ay“ eingraviert. Es ist das Mantra des heute 77-jährigen Simon Napier-Bell, eines Veteranen des Musikgeschäfts im anglosächsischen Raum. In seinem durchaus amüsanten Schwarzbuch der Musikbranche beschreibt er, wie sich schon Hunderte Jahre lang Glücksritter unterschiedlichen Temperaments in diesen Berufszweig einklinkten, um Geld mit Songs zu machen. Die Krux dabei: Alle paar Jahre verändert sich durch die Entwicklung der Technologie alles fundamental.

Der aktuelle Kriegsschauplatz ist die Kunstform des Albums. Ihren natürlichen Feind hat die seit den späten Fünfzigerjahren dominierende Darreichungsform von Popmusik in jenen, die ganz unkünstlerisch mit vordergründigen Hits abzocken wollen. Zuletzt waren es aber nicht nur Manager, sondern auch Musiker selbst, die der Tradition des Songzyklus den Rücken kehren. Da plapperte der 23-jährige Chance The Rapper in Jimmy Fallons TV-Show davon, dass Albummachen nicht mehr zeitgemäß sei und er lieber seine Musik verschenke, als sie sich online stehlen zu lassen.


Collegesender

Ob das Geschäftsmodell, nur von Konzerten zu leben, nachhaltig ist, muss sich weisen. Auf dem US-Markt zu reüssieren wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten für Newcomer stets schwieriger. Die radikal kommerzialisierte Radiolandschaft negiert alles, was sich politisch oder sozialkritisch gebärdet. Der dezente Hinweis auf die jeweilige Formatierung wird zum Bannfluch. Popmusiker mit höherem Anspruch bleiben nur die Universitäts- und Collegesender. Und dort predigen sie zu ohnehin schon Bekehrten. Mit dieser Präferenz für Kommerz limitiert sich das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ ohne Not. Viele der besten Künstler schwärmen nach Übersee aus. Eine ähnliche Entwicklung gab es im Jazz schon in den Fünfziger-/Sechzigerjahren, als Granden wie Sidney Bechet, Dexter Gordon, Nina Simone und Ben Webster nach Europa zogen. Längst hat dieser Trend auf weiße Popmusiker übergegriffen. Egal, ob Weird Folk à la Devendra Banhart, Alternative Country à la Lambchop oder hohe Kunst der Ballade, wie sie ein John Grant kredenzt – sie alle locken in Europa mehr Publikum als in ihrer Heimat.


Gestus der Rebellion

Zuweilen glückt es, über eine Karriere in Europa den Einstieg in die amerikanischen Charts zu schaffen. Sängerin Lana del Rey hat mit ihren sirupsüßen Melodien, in denen bittere Wahrheiten versteckt sind, letztlich auch in ihrer Heimat verspätet Karriere gemacht. Ein Kunststück, das der in L.A. residierenden Dreampop-Girlband Warpaint mit ihrem dritten, von warmen R&B-Melodien durchzogenen Album „Heads up“ auch gelingen sollte. Die Betäubung, die ihre Musik auslöst, steht zwar diametral zu der in den USA verbreiteten calvinistischen Ethik, könnte aber mit etwas Glück doch viral werden.

Die zwischen Indie-Pop und Elektronik pendelnde Julia Holter, die sich in ihrer Anfangszeit von Renaissancemusik und griechischer Tragödie inspirieren ließ, konnte sich mit ihrem vierten Album „Have You in My Wilderness“ in mehreren europäischen Staaten in den Charts platzieren. „Die Europäer hören aufmerksamer zu. Sie lassen sich von den Impulsen der Musik intensiver anregen“, meinte sie jüngst in einem Gespräch mit der „Presse“. Während in den USA die Sexsimulationen im Showbusiness neue Rekorde brechen, präferieren Europäer den im Pop fast genauso gern zelebrierten romantischen Gestus der Rebellion.

Viele der aktuell interessantesten künstlerischen Äußerungen kommen von den Rändern der Gesellschaft. Das hat Tradition. Schon Blues, Gospel und Jazz hatten ihr Fundament in Ghettos und Inner Cities. Auch der zeitgenössische Soundtrack der Marginalisierten ist von hohem Liebreiz. Anderson Paak, ein musikalischer Großmeister mit göttlicher Stimme, gießt etwa seine Erfahrungen, die er als Obdachloser gemacht hat, in raue R&B-Texturen.

Der 75-jährige Seasick Steve, ein kalifornischer Hobo, der das Gefängnis gut von innen kennt, setzt dagegen auf den Blues. Der Häfenbruder in Ruhestand hat seit 2007 große Karriere in Europa gemacht, wo der Boden wohl auch für den jungen Marcus King fruchtbar sein dürfte. Der 20-jährige Gitarrist, Sänger und Komponist aus South Carolina ist äußerlich betrachtet ein adipöser Wimmerlbub aus der Provinz. Wäre da nicht diese samtig-soulige Stimme, die Erfahrungen abstrahlt, die der Bursche in diesem Leben wohl noch nicht gemacht hat. John Grant schließlich, der ehemalige Leadsänger der Czars, hat sich auf seinem dritten Soloalbum „Grey Tickles, Black Pressure“ aus der Selbstbezogenheit befreit, die sein früheres Werk dominierte. Grant, der durch eine HIV-Infektion zum Außenseiter wurde, entdeckt in seinen neuen Liedern, dass auch andere leiden. „There are children who have cancer/And so all bets are off/'cause I can't compete with that“ singt er verhalten im Titelsong. Mag er auch auf einigen Liedern als sensitiver Ich-Erzähler agieren, die Zeit des Selbstmitleids ist vorüber. Auf schmerzvollen Songs wie „No More Tangles“ und „Magma Arrives“ versetzt er sich behutsam in fremde Schicksale. Derlei Empathie gilt vielen Amerikanern als verweichlicht. Sie sagen „europäisch“ dazu. ?

Tipps

Devendra Banhart: „Ape in Pink Marble“ (Nonesuch)

Warpaint: „Heads up“ (Rough Trade)

Julia Holter: „Have You in My Wilderness“ (Domino)

The Marcus King Band: „Fantasy“ (Concord Music)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.10.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.