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Der rote Gockel und die (alten) blauen Buben

The Rolling Stones pose as they arrive for the opening of the new exhibit ´Exhibitionism: The Rolling Stones´ in New York
The Rolling Stones pose as they arrive for the opening of the new exhibit ´Exhibitionism: The Rolling Stones´ in New York(c) REUTERS (MIKE SEGAR)
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Mick Jagger singt wieder den Blues: Die Rolling Stones überraschen mit einem lupenreinen, rauen Bluesalbum. Auf „Blue & Lonesome“ forcieren sie alte Tugenden: Rohheit und Spontanität.

Was der unterm Arm trägt, ist einen Raubüberfall wert: Das dachte sich Keith Richards, als er Mick (damals noch Mike) Jagger, einen damals nur vagen Bekannten aus Kindheitstagen, auf dem von Pendlern überfüllten Bahnsteig in Dartfort erspähte. Es handelte sich um zwei Alben des Chicagoer Blueslabels Chess, die Jagger da an diesem schicksalshaften Morgen im Frühling 1961 mit sich trug. Wegen dieser begehrten Scheiben sprach ihn Richards an.

Das war nicht selbstverständlich, schließlich kamen die beiden aus unterschiedlichen sozialen Klassen. Jagger, Spross einer Mittelklassefamilie, studierte an der London School of Economics. Richards, ein von der Mama verzogenes Arbeiterkind, legte dagegen eine schulische bzw. berufliche Bauchlandung nach der anderen hin. In der Liebe zum Blues fand die beiden 18-Jährigen aber gemeinsames Terrain. Während der Zugfahrt glichen sie ihre Wertehierarchien bezüglich der rüden, aus Chicago kommenden Musik ab. Beide verehrten Howlin' Wolf, Muddy Waters, Little Walter, Willie Dixon usw.; der Blues wurde zum Katalysator ihrer Freundschaft – und zur Basis der Erfolgsgeschichte der größten Rock'n'Roll-Band der Welt.

Little Boy Blue and the Blue Boys

Jeder, der heute über die ungelenken Anfänge der Stones liest, gerät ins Schmunzeln. Allein ihr erster Bandname ist rührend: Little Boy Blue and the Blue Boys. Im Fahrwasser des britischen Blues-Pioniers Alexis Korner kamen die Youngster zu ersten Auftritten. Jagger erkannte, dass es gut wäre, ein Instrument zu spielen. Er wählte die Bluesharp, also die Mundharmonika. Der von ihm bewunderte und deshalb scharf beobachtete Cyril „Squirrel“ Davies war ihm allerdings keine Hilfe. Auf die Frage, wie man denn die Noten auf diesem kleinen Instrument biege, antwortete er barsch, dass einer wie Jagger dafür wohl eine Zange benötige . . .

Die bald gegründeten Rolling Stones reicherten ihren Blues mit viel Beat an. Doch 1964 waren sie besonders stolz darauf, den reinen Blues-Song „Little Red Rooster“ auf Platz eins der britischen Charts zu bringen: Mit dicken Lippen und heißem Hauch beatmete Jagger seine Mundharmonika. Auch auf Slim Harpos „I'm a King Bee“, später dann auf „Mannish Boy“ von Muddy Waters. In der Spur der alten Blues-Meister holten sich Jagger/Richards die Inspiration für ihre eigenen Songs. Bald explodierte ihre Kreativität: Im Lauf der Jahrzehnte mäanderten sie durch Rock, Funk, Punk, Disco, Reggae, Psychedelia. Doch den Blues vergaßen sie nie, wie Songs wie „No Expectations“ und „Ventilator Blues“ zeigen. Eine Hauptrolle wie auf den ersten beiden Alben spielte er allerdings nicht mehr. Um so überraschender nun, dass das am 2. Dezember erscheinende neue Stones-Album „Blue & Lonesome“ eine lupenreine Hommage an das Genre ist, das den Ethos dieser Band von Anfang an bestimmt hat.

Plan stand keiner dahinter. Die zwölf Songs sind Produkt einer heiteren Prokrastination. Eigentlich arbeiteten sie an einem Album mit Eigenkompositionen, kamen aber an einen toten Punkt. Richards schlug vor, zur Auflockerung den Little-Walter-Klassiker „Blue And Lonesome“ zu spielen. „It's always good in the studio to warm up with things we know and throw something in when there's some dead air“, kommentiert er. Tatsächlich, Jagger kam in Stimmung und bestand darauf, gleich auch „Commit a Crime“ von Howlin Wolf auszuprobieren.

Am Ende der ersten Aufnahmesession hatte man sechs Songs im Kasten. Spontan wurde entschieden, ein archaisches Blues-Album zu machen. Mit dieser Ausrichtung kam eine Sinnlichkeit und Verspieltheit in Gang, die sie ihre 54-jährige Geschichte fast vergessen ließ. Mit Eifer suchte Jagger in seiner privaten Plattensammlung nach semiobskuren Kompositionen seiner alten Helden, die sich für eine Neuinterpretation eigneten. So fand er das versonnene „Little Rain“ von Jimmy Reed, mit unschuldigen Zeilen wie „The little flowers bloomin', the little birds keep a-singin' tune“. Oder den patinierten Little-Johnny-Taylor-Hit „Everybody Knows about My Good Thing“, eine Ode an die unvernünftige Liebe. Die nach wie vor elektrisierende Stimme Jaggers forciert hier Doppeldeutigkeiten: „Call the plumber, Darlin', there must be a leak in my drain“ – formuliert in einer Dringlichkeit, die selbst bei ihm selten geworden ist.

Auf dem Album dominieren rasante Zwölftakter mit scharfem Mundharmonikaspiel Jaggers. „Hätten wir das Album geplant, hätte ich vorher wohl wochenlang geübt“, sagt dieser. Doch die goldene Regel von „Blue & Lonesome“ war es, das Rohe, Ungeschliffene zu belassen. Nicht einmal Gastgitarrist Eric Clapton kommt ihr aus. Am Ende klingen die Stones im kompromisslosen Eintauchen in diese gut abgehangenen Blues-Songs authentisch wie lang nicht. So jung werden sie wohl nie mehr zusammenkommen.

ZUM ALBUM

„Blue & Lonesome“, das 23. Studioalbum der Rolling Stones (nach britischer Zählung, in den USA waren es zwei mehr), ist zugleich das erste, auf dem keine einzige Eigenkomposition ist. (Sogar auf dem allerersten Album, 1964, fand sich ein Stück von Jagger/Richards.) Die zwölf Stücke stammen von Buddy Johnson, Howlin' Wolf, Memphis Slim, Magic Sam, Little Walter (2), Miles Grayson/Lermon Horton, Edie Taylor, Otis Hicks/Jerry West, Ewart G. Abner Jr./Jimmy Reed und Willie Dixon (2). Bei zwei Songs spielt Eric Clapton Gitarre.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.11.2016)

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