Pop

Minimalismus für Seelen und Trommelfelle

The XX
The XX(c) Alasdair McLellan
  • Drucken

The XX verfeinern auf ihrem neuen, dritten Album, „I See You“, ihren melancholischen Existenzialismus ein weiteres Mal. Diesmal allerdings eine Spur optimistischer und mit abenteuerlichen Beats.

Da Reduktion von jeher ihre Lieblingsstrategie ist, entschlossen sich The XX vor zwei Jahren, zehn Nächte lang Konzerte für nur je 50 Menschen zu geben. Als Location suchten sich die verschatteten Youngster die Park Avenue Armory in New York aus, einen ehemaligen Exerziersaal des Militärs. Auf den Eintrittskarten stand 55 Dollar. Aber auf dem Schwarzmarkt wurden bis zu 5000 Dollar lukriert. Wohl auch, weil sich Prominente wie Regisseur Wes Anderson, Madonna und Rapper Jay-Z angesagt hatten. Dank eines wohl ausgetüftelten Raum-im-Raum-Konzepts wurde der große Saal zum intimen Bühnenraum. Die Besucher wurden durch dunkle Tunnels zum eigentlichen Ort des Geschehens geleitet. „Three unsmiling figures stood in near darkness“, beschrieb John Colapinto im „New Yorker“ seinen ersten Eindruck.

Aus der Abgeschiedenheit heraus

Derlei Nüchternheit war nicht angebracht, obwohl sich die Schüchternheit der Band auf das Publikum übertrug. Viele trauten sich, obwohl tief ergriffen, nicht zu klatschen. Es war dennoch ein entscheidender Moment in der Karriere der Band. Die zur Introvertiertheit neigenden Musiker entschlossen sich danach, ihr drittes Album nicht in jener Abgeschiedenheit zu ersinnen, die noch für die kreativen Prozesse des Vorgängers, „Coexist“, essenziell war. Da hatte man sich in London in einer Dachwohnung verschanzt. Jetzt sollte der Heimatstadt möglichst weiträumig ausgewichen werden. Das Gros der Lieder von „I See You“, das am Freitag (13. 1.) erscheint, wurde hauptsächlich in Los Angeles, Reykjavik, New York und im texanischen Künstlerstädtchen Marfa ersonnen.

Das war nicht nur für die zu den Sessions eingeladenen Fans und Freunde eine überraschende Volte, sondern in erster Linie ein Manöver der Selbstüberlistung, das die fast krankhaft nach innen gekehrte Band dringend nötig hatte. Positiver Nebeneffekt? Die notorischen Langsamschreiber wurden zu Eile angehalten. Vor allem aber zu gemeinsamer Arbeit. Kurioserweise waren Sängerin und Gitarristin Romy Madley Croft und Sänger und Bassist Oliver Sim, obwohl sie einander seit der Vorschulzeit kennen, daran gewöhnt, ihre Ideen einzeln auszuhecken. In der Frühzeit der Band konnten sie nicht einmal miteinander über ihre Einfälle sprechen. Sie tauschten sich per iChat aus.

Nun war alles anders. Ein kleiner Kreis war Zeuge der Geburt grandioser Songs wie „Brave for You“ und „Lips“. Auch die neuen Lieder sind von melancholischer Anmutung, aber lang nicht mehr so suizidal wie die des Debütalbums, „The XX“, 2009. So ein gemütsaufhellendes Sample wie in „On Hold“ wäre da unmöglich gewesen. Nun lassen sich The XX von einem sehr spielerisch verfremdeten Sample der Hall-&-Oates-Disconummer „I Can't Go for That“ auflockern. „Wir wollten uns nicht in Gedanken verstricken wie etwa: Wie klingen The XX? Was ist typisch für The XX? Es hat uns viel Spaß gemacht, derlei Gedanken hinter uns zu lassen. So ergaben sich viele neue Möglichkeiten“, sagt Oliver Sim.

Das neue Opus beginnt mit der triumphalen Tanznummer „Dangerous“. Da geht es um ein Bekenntnis zur unvernünftigen Liebe. Zu seltsam hupenden Keyboards und Polizeisirenen reflektieren Madley Croft und Sim ihre Wagnisse. „So I won't shy away, should it all fall down, you'll have been my favourite mistake“, singen sie unisono. Die dabei sprühenden erotischen Funken erstaunen, wenn man weiß, dass sie lesbisch und er schwul ist. „Es hört sich an, als ob wir einander meinen.“

Korrektiv zu US-Hörgewohnheiten

So unamerikanisch das Programm scheinen mag, es stößt in den USA auf größte Begeisterung, auch bei Stars von Rihanna über Kanye West bis zu Beyoncé Knowles. Wie viele Fans fühlen sie, dass diese Musik ein großartiges Korrektiv zu den US-Hörgewohnheiten ist. Einerseits wegen des Minimalismus von The XX, der Balsam auf den Seelen und Trommelfellen der Amerikaner ist, die permanent vom kalkulierten Bombast des US-R&B penetriert werden. Zudem ist da diese düstere Lyrik, die die (europäische) Sicht auf die negativen Möglichkeiten des Lebens lenkt.

The XX sind Botschafter des Risses und Schmerzes in unserer Existenz. Sie sind subversiv, indem sie auf den Einsturz der Konformität drängen und auf die Macht eines abgründigen Seins setzen. „If I scream at the top of my lungs, will you hear what I don't say?“, singt Croft in „Performance“ kryptisch. Es treibt sie, hinter die Kulissen der Konvention zu schauen. Mit ihrer grandiosen Kombination aus depressivem Singer/Songwriting und abenteuerlichen Beats aus der Maschine vereinen sie heterogene musikalische Strömungen wie Ballade und Tanzmusik, ohne eine davon auch nur im Geringsten zu verwässern.

Album: „I See You“ erscheint am 13.1. bei Young Turks.
Konzert: am 23.2. in der Wiener Marx-Halle.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.01.2017)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.