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Blut, Wein, Traurigkeit: Fantastische Tindersticks

(c) EPA (BRITTA PEDERSEN)
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Die auch schon klassische Band aus Nottingham begeisterte im Theater Akzent mit gut abgehangener Melancholie. Diese Melancholie à la Tindersticks ist aber auch eine Mannschaftsleistung.

Die Vierziger, was für ein idealer Lebensabschnitt sie doch sind! Die Lebensangst ist abgeschüttelt, die Todesangst wartet noch hinterm Horizont. Man wähnt sich katastrophenresistent, ist präzise in der Schmerzverarbeitung. Oft hat sich eine individuelle Säftelehre etabliert. So auch bei den Tindersticks, die bei ihrem ergötzlichen Auftritt in Wien ebenso über die Rätsel von Blut und Wein, unter besonderer Berücksichtigung von deren Wechselwirkung, brüteten.

Anders als in der Jugend, wo toxische Unmäßigkeit oft das Herz zu grundloser Heiterkeit hinreißt, wird ja in den mittleren Jahren bewusst mit dem Korkenzieher philosophiert. Sänger Stuart Staples begründete es in „Factory Girls“ schlicht so: „It's the wine that makes me sad.“ Ergo gilt es, die Berauschung so dezent herbeizuführen, dass weder falsche Euphorie noch der Sturz in die Depression droht. Schließlich ist die Melancholie ein heikler Balanceakt.

Die 2006 radikal umbesetzten Tindersticks beherrschen die musikalische Umsetzung dieses oft Richtung Kitsch missbrauchten Gefühls souverän. Ihre Mollschichtungen erwiesen sich einmal mehr als redundanzfrei. Die potenziell reiche, aber konsequent auf das Prinzip der Mindestüppigkeit setzende Instrumentierung und der stoische Gesangsduktus von Stuart Staples mündeten da in einer bestechend kargen Kunst, abseits dramatischer Talmi.

Die Verführung ins Schattenreich startete mit der rätselhaften Gewaltstudie „Blood“ vom unverwelklichen Debütalbum aus 1993. Die Frage „Where does the blood go?“ blieb letztlich wieder unbeantwortet. Doch es ist einfach erstaunlich, mit welch heiligem Ernst sich Staples in seinen Liedern immer wieder in die Ausweglosigkeiten des Lebens stürzt.

Melancholie à la Tindersticks ist aber auch Mannschaftsleistung. Die treibende neue Rhythmussektion versorgte die geliebten Lamentos von Staples mit gleißenden Energieschüben; Multiinstrumentalist David Boulter und Gitarrist Neil Fraser arbeiteten ihre oft winzigen Motive mit rührender Genauigkeit ein. Und Saxofonist und Trompeter Terry Edwards, der kürzlich mit „Clichés“ eine schöne Hommage an Alex Chilton veröffentlicht hat, bringt mit seiner herben Spielweise jazzige Bitterstoffe ein.

Ganz große Magie: „Factory Girls“

Auf dem Menü standen in erster Linie die Delikatessen des aktuellen Albums „The Something Rain“. Sogar David Boulters ein bisserl krudes Sprechstück „Chocolate“, das stark an Dexy Midnight Runners „Reminisce Pt. 2“. Hell loderte die Melancholie in den druckvollen Liedern „This Fire of Autumn“ und „Medicine“. Aber weil die Tindersticks vor allem Produzenten sublimer Genüsse sind, sind die intensivsten Momente in den Balladen „If She's Torn“ und „Show Me Everything“ gekommen. Und die ganz große Magie passierte an diesem Abend in „Factory Girls“, diesem quälend-schönen Stück Sozialromantik. Man sah förmlich die armen Fabriksmädchen mit ihren teerverfärbten Fingern und ihren funkensprühenden Kunststoffunterkleidern und begriff: Geldmangel sorgt zuweilen für die schönste Zier.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.05.2012)

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