„Suus“ war der packendste Beitrag des Songcontest-Halbfinales. Sonst regierte meist halbernste Pop-Realität. Die österreichischen Teilnehmer schafften den Aufstieg nicht.
Einen solchen Knödel aus Haupthaar hat man noch nie gesehen beim Eurovision Song Contest. Und einen solchen Schrei hat man noch nie dort gehört: Rona Nishliu aus Albanien sang einen Song namens „Suus“, der schnell die wohltemperierte Songcontest-Ekstase überschritt – hinein in Gefilde der Hysterie, wo es auch andere Intervalle gibt als große Terzen und reine Quinten. „Das Morgen wird nichts bringen als hoffnungslose Hoffnung und Irrsinn“, sang sie und schrie, so gellend, dass viele Songcontest-Seher noch am nächsten Tag erzählten, sie hätten ja viel Nettes von vielen Nationen gehört, aber diese Albanerin sei doch zu arg gewesen...
Ein Ausschaltimpuls also. Für andere ein Grund, wieder daran zu glauben, dass der Songcontest, der jahrzehntelang nur als Belustigung für halbironische Soletti-Partys durchging, Relevanz in einer Popwelt hat, von der man oft nicht so recht weiß, wie relevant sie überhaupt noch ist. Will sagen: Im traditionsseligen „Vintage“-Unternehmen des heutigen Pop ist der Songcontest nicht mehr auffällig anachronistisch.
Immer wieder Achtzigerjahre
Die beiden Eighties-Mimikry-Beiträge des ersten Halbfinales etwa würden durchaus auch in FM4 passen: Warum die an „Kajagoogoo“ erinnernde „Compact Disco“ aus Ungarn den Aufstieg schaffte, nicht aber „Sinplus“ aus der Schweiz, deren Sänger über den „wildest ocean“ knödelte, als sei Robert Smith von den „Cure“ in einen am-phetaminhältigen Jungbrunnen gestürzt? Vielleicht lag's an den allzu gezierten Leder-Accessoires der Schweizer, das soll eine gütige Nachwelt beurteilen. Das einst gern belächelte Ost-West-Gefälle in Fragen des Geschmacks scheint jedenfalls verflossen; und wenn Teilnehmer auffälligen Balkan-Chic verströmten, dann taten sie es mit großer Absicht: Ironie! Der Rambo Amadeus aus Montenegro mit „Euro Neuro“ etwa hatte sich das Haar mit Bedacht nicht gewaschen und einen speckigen Smoking gewählt, das sollte den Witz seiner Reime verstärken: „Liberalism, tourism, nudism, optimism, it's good for rheumatism“, dem Mann ist nichts heilig, er kommt dennoch nicht ins Finale. Wie die lettische Sängerin, die in ihrem „Beautiful Song“ davon träumte, dass „Sir Mick Jagger“ sie anruft, sie aber keine Zeit hat. Vielleicht ruft er jetzt erst recht an.
Warum die österreichischen Trackshittaz nicht promoviert wurden? Könnte sein, dass sie für durchschnittseuropäische Augen & Ohren ein bisschen wie eine Parodie wirkten, aber eben doch nicht so wirklich. Obwohl: Die irischen „Jedward“-Zwillinge wohnen genauso im Limbo zwischen Halbernst und Halbspaß, und sie kommen ins Finale.
Russische Mütterchen mit Party-Pop
Weitere Aufsteiger: Rhythmisch und harmonisch originell ist „Should've Known Better“ von der mit Kapitänsmütze und Epauletten angetretenen Dänin Soluna Samay; „Aphrodisiac“ von der griechischen Teilnehmerin Eleftheria Eleftheriou fällt in die Sparte Ferienklub-Pop mit Bodenturnen; Jonsi aus Island bestach mit stechendem Blick; der Sänger aus Moldawien trug Schnurrbart und martialische Stiefel; die zypriotischen Mädchen glitzerten auf einem Stapel aus Büchern; Mandinga aus Rumänien kombinierten Dudelsack mit kubanischen Rhythmen und Feuer. Alles geht, sogar eine Gruppe russischer Mütterchen mit Kopftüchern, vielen Zahnlücken und kindischem Party-Pop.
Bei aller Skurrilität, man wird sich diese Weltmusik-Fußnote nicht merken, selbst wenn sie gewinnen sollte. Sicher merken wird man sich den Schrei aus Albanien.
Songcontest-Fahrplan
Heute, Donnerstag, findet das zweite Halbfinale statt, bei dem wieder zehn aus 18 Kandidaten bzw. Ländern fürs Finale gewählt werden.
Am Samstag dann wird das Finale ausgetragen. Zu den 20 Ländern, die aus den Semifinal-Bewerben aufgestiegen sind, kommen als Fixstarter das Gastgeberland Aserbaidschan sowie die fünf „großen“ Nationen, die finanziell am meisten zur European Broadcasting Union beitragen: Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.05.2012)