Cassandra Wilson: Kühl und heiß vertauscht

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Cassandra Wilson deutet Billie Holiday radikal neu.

Während Cassandra Wilsons behüteter Kindheit im Süden der USA war Billie Holiday für sie tabu. Ihre Eltern spielten deren traurige Lieder nicht, weil sie im Dunst zwielichtiger Verhältnisse entstanden waren. Dass Wilson als Sängerin dennoch über Umwege zu Holiday kam, war unvermeidlich. Schon auf ihrem ersten Soloalbum für das Münchner Label JMT sang sie „I Wished on the Moon“ aus dem tränenreichen Repertoire Holidays. Aber gleich ein ganzes Album? Das scheint gewagt und gleichzeitig doch kalkuliert. Kalkuliert, weil Dee Dee Bridgewater schon 2010 eine Hommage an Billie Holiday he­rausbrachte. Gewagt, weil Wilson als berüchtigte Meisterin des Retardierens Melodien bis an den Rand ihrer Entstellung verlangsamt. Das verändert die Spannung im Lied und macht es gleichzeitig unendlich melancholisch. Für „Coming Forth by Day“ hat sich die exzentrische Jazzdiva selbstverständlich ein paar unglaubliche Manöver ausgedacht. Es begann bei der Wahl ihrer Mannschaft: Als Produzenten wählte sie den patinierten Nick-Cave-Hintermann Nick Launey, als Schlagzeuger Thomas Wydler, als Bassisten Martyn Casey, beide Langzeitmitglieder der Bad Seeds. Ja, Cassandra Wilson liebt auch die düsteren Texturen von Nick Cave. Dazu holte sie ihre US-Lieblingsmusiker von T-Bone Burnett bis Kevin Breit, die die fiebrige Atmosphäre des amerikanischen Südens mit geschmackvollen Klängen und Effekten ideal evozierten. Van Dyke Parks besorgte die empfindsamen Geigenarrangements, etwa im wunderbar verrätselten „You Go to My Head“: Mit ihrer Hilfe verändert Wilson die bekannten Songs. Mit ihren kunstvoll verschleppten Phrasierungen kühlt sie an Stellen, die man als Hörer heiß in Erinnerung hatte. Und sie schafft Hitzen, wo ursprünglich Agonie herrschte.

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Brillanter Eigensinn. Die rechte Gunst erweist einem dieses Album erst ab dem zehnten Hördurchgang. Da begreift man allmählich, welche Kraft in Wilsons gesanglichen Zärtlichkeiten steckt, welch brillanter Eigensinn den Standards neue Kraft verleiht. Schläfrige Balladen wie „The Way You Look Tonight“ und „These Foolish Things“ bezirzen da genauso wie die sehr bedachtsam neu interpretierte Rassismusanklage „Strange Fruit“. Highlight aber ist die einzige Eigenkomposition „Last Song (for Lester)“, das von den bitteren Gefühlen ausgeht, die Holiday wohl hatte, als sie erfuhr, dass sie nicht am Grab ihres langjährigen Saxofonisten Lester Young singen durfte. Ein kühnes Album, unergründlich wie Wilsons stets ein wenig müde Eleganz abstrahlende Augen.

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