Festspiele: Wehmut und Nervosität in Salzburg

(c) EPA (Urs Flueeler)
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Pianist Evgeny Kissin lotete Schuberts Melancholie und Skrjabins Nervenkontrapunktik aus.

Der Jubel war enorm, nicht erst bei den Zugaben: Da zeichnete Evgeny Kissin mit schlanker Lineatur, aber bedeutungsvoll, Bachs klagend in sich selbst kreisendes Siciliano aus der Flötensonate BWV 1031 in Wilhelm Kempffs Bearbeitung nach und kehrte mit der cis-Moll-Etüde op. 42/5 nochmals in die atemlos erregten Gefühlswelten Alexander Skrjabins zurück, bevor er mit Chopins As-Dur-Polonaise das Publikum aus den Sitzen riss. Kissin meisterte auch dieses Virtuosenstück brillant – aber mit kalkulierter Dosierung in Tempo, Dynamik und Artikulation, also: ohne einen Anflug jener zirzensischer Übertriebenheiten, die etwa von Lang Lang bekannt sind.

Einen jugendlichen Klassik-Popstar aktuellen Zuschnitts musste der 43-jährige russische Pianist (mit britischem und israelischem Pass) einst gottlob nicht mimen, er durfte sich auf ganz normal verrücktem Weg vom Wunderkind zum reifen, schwierigen Künstler entwickeln.

Sublime Anschlagskultur

Diesem konnte man im ersten Teil des Klavierabends im Großen Festspielhaus bei Schuberts großer „Gasteiner-Sonate“ D 850 mit Gewinn lauschen – vor allem in deren Herzstück, dem Andante con moto. Kissin stellte das zweite Thema da nicht etwa als drängenderen Widerpart zum ersten dar, sondern ließ es beinah noch zarter, lyrischer, wehmütiger singen, entwickelte es in der Variation behutsam und lauschte dabei traumverloren Schuberts Modulationen nach.

Der Innenspannung des Satzes tat das keinen Abbruch: All die elegischen Zärtlichkeiten fächerte er so differenziert auf, dass die Kontraste ihren Platz im großen Zusammenhang fanden und zuletzt delikat und doch sonor verdämmerten. Zwischen zupackender Kraft und fein ausbalancierten Wendungen folgte das Scherzo, das fernab allzu dick aufgetragener Walzerimitate sanft swingen durfte. Und im Finale spitzte er die scharfen Staccati in der Begleitung des Hauptthemas zunächst geradezu parodistisch zu, bevor er auch sie abtönte – und nicht nur das zauberhafte zweite Couplet auf die Rosen sublimer Anschlagskultur bettete, sondern auch die Verflüchtigung des Schlusses zu einem Ereignis machte. Der Kopfsatz wirkte dagegen nur wie ein unverbindliches Entrée: Schade, dass Kissin hier noch mehr im neutralen Referieren verharrte, etwa den abrupt sich dazwischenschiebenden Klangflächen keine verstörende Bedeutung zumaß.

Im besten Sinn befremdlich wirkten dagegen manche Piecen des zweiten, Skrjabin gewidmeten Teils: zunächst in den pittoresken Meeresstimmungen der Sonate-Fantasie op. 19, dann in der dramaturgisch klugen Siebenerfolge aus den zwölf Etüden op. 8. Neben harschen Konfliktrhythmen (Nr. 2), nachdenklich loderndem Feuer (Nr. 5), finsterem Balladentonfall (Nr. 9) und der virtuosen Dringlichkeit der dis-Moll-Etüde brachte Kissin poetisch-flüchtige Girlanden zum Schweben (Nr. 4) und schlug etwa in der As-Dur-Etüde (Nr. 8) ganz empfindsame Töne an: ein Katalog nervöser Zustände.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.08.2014)

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