Wenn die Oper alles in Wohlgefallen auflöst . . .

(c) Gabo/Deutsche Grammophon
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Die Gestaltungskünste von Stars wie Rolando Villazón hat Christoph W. Gluck mit Werken wie „Iphigénie en Tauride“ als erster Komponist voll herausgefordert.

Unmittelbare Wirkung, Wahrhaftigkeit, echte Empfindungen wollte Christoph Willibald Gluck als Musikdramatiker wecken. Die Formensprache der barocken Oper, des Repräsentationstheaters schlechthin, hat er dabei ganz bewusst hinter sich gelassen. Das provozierte heftigen Widerspruch, eine Art Theaterkrieg sogar, der mit wütenden Attacken geführt wurde. Doch zuletzt siegte Glucks Ästhetik auf der ganzen Linie: „Man sah Menschen, die den ganzen Abend über Tränen in den Augen hatten“, vermerkt der Chronist über die denkwürdige Uraufführung von „Iphigenie auf Tauris“. Paris im Mai 1779 war Schauplatz des Ereignisses. Die musikalische Tragödie hatte eine neue Lebensform entwickelt – die Oper war vom Barockspektakel endgültig zum Transportmittel humanistischer Ideale geworden.

Tönende Revolution. Glucks Leistung beruht, wie so oft, nach kräftigen Bemühungen um eine neue, jeglichem Formalismus abholde musikalische Sprache, in der Reduktion, in bewusster, wenn auch hoch elaborierter Einfachheit. Nur so war die leidenschaftliche Bewegung im Publikum überhaupt zu erzielen. Die klare, im Vergleich zur Blumigkeit überkommener Libretto-Stilistik geradezu holzschnittartigdirekte Sprache des jungen Textdichters Nicolas-Francois Guillard ebnete Glucks tönender Revolution den Weg. Libretto und Musik reden in der „Sprache des Herzens“ zum Zuschauer, wie Gluck das in seiner wegweisenden Vorrede zu „Alceste“ gefordert hat.

„Alceste“ war die spektakuläre Reformoper aus seiner Feder, umgeformt aus einer italienischen Erstversion in ein Pariser Vorzeigestück, das 1776, drei Jahre vor der „Iphigénie“, seine Premiere erlebte. Der ehemalige kaiserliche Hofmusiker Gluck war seiner Klavierschülerin Marie Antoinette, die 1770 den französischen Dauphin geheiratet hatte, nach Paris gefolgt. Was in Wien, angefeuert von den Ideen des Librettisten Raniero de Calzabigi 1762 mit dem „Orpheus“ begonnen hatte, erreichte mit den Pariser Innovationen einen in der Geschichte bis dahin ungeahnten Höhepunkt.

Dabei war Gluck das Revoluzzertum nicht in die Wiege gelegt worden. Er war auf dem Höhepunkt seiner Pariser Triumphe für die damalige Zeit bereits ein alter Mann. 1714 als Sohn eines Försters in der Oberpfalz zur Welt gekommen, in böhmischen Landen aufgewachsen und der väterlichen Obhut bald entflohen, schlug er sich als Sänger durch, studierte in Prag Mathematik, ließ sich aber von seiner musikalischen Leidenschaft nach Italien locken.
Dort verdiente er sich als Student und Assistent des großen Giovanni Battista Sammartini seine ersten Sporen. Als reisender Opernkomponist bediente er die theatralischen Konventionen jener Ära, schrieb willig Stücke in den Gattungen Opera seria und Opera buffa; auch noch ein gutes Jahrzehnt lang, als er in Wien aufgrund unstrittigen Könnens zum Kapellmeister geworden war.

Interessanterweise war es ein Ballett, „Don Juan“, in dem Glucks Reformgeist offenbar wurde: Das Finale zeigt die Höllenfahrt des frivolen Titelhelden zwar in Form der traditionellen Chaconne, doch was da an dramatischer Musik erklingt, war für die Zeitgenossen des Jahres 1761 unerhört aufwühlend, modern, radikal im musikalischen Sinn.

Damit war ein Damm gebrochen. Ein Jahr darauf erschien Orpheus auf der Bühne, schon eminent „entschlackt“ und aufs Wesentliche reduziert. Mit der barocken Pracht hatte es ein End’. Ein Sinn für Realismus, für Wahrheit und unmittelbar menschlichen künstlerischen Ausdruck sollte alle artifiziellen Formspiele (und -spielereien) durchbrechen und hinter sich lassen.

Die zweite der beiden „Iphigenie“-Tragödien (die „aulidische“ ist 1774 uraufgeführt worden) zeigt die neu entwickelte dramaturgische Kunst im Zustand ihrer höchsten Entwicklung.

Was im „Don Juan“ als Keimzelle im Finale zu erleben war, bricht gleich über die Eingangsszene der „Iphigénie en Tauride“ herein: Ein pittoresker Sturm – Abbild der meteorologischen Unbilden, die Orest und Pylades an den Strand des Taurer-Landes werfen, aber auch der Seelenstürme, denen die handelnden Personen des Dramas ausgesetzt sind. Gluck liefert seinen Interpreten in der Folge die idealen melodisch-deklamatorischen Vorlagen, um ausdrucksvoll mit den Mitteln des Gesangs Schicksale erlebbar zu machen: Im Haus für Mozart gibt bei den Pfingstfestspielen und im Sommer Cecilia Bartoli die Titelheldin, Christopher Maltman ist der Orest, Rolando Villazón dessen Vertrauter Pylades. Michael Kraus schlüpft in die Rolle des misstrauischen Skythen-Königs Thoas.

In sein Reich hat die Göttin Diana Iphigenie entrückt, um sie vor dem Zugriff ihres Vaters Agamemnon zu schützen. Der wollte die Tochter den Göttern opfern, um sie günstig zu stimmen für einen Aufbruch nach Troja. In Tauris freilich ist Iphigenie selbst zur Priesterin geworden, die den grausamen Befehl zu befolgen hat, jeden Fremden, der sich ins Land wagt, zu opfern.

Innere Konflikte. Nun steht sie dem eigenen Bruder gegenüber, der sich freilich gern auf die Schlachtbank führen lassen würde: Über allem schwebt der Fluch der Atriden. Agamemnon ist längst von seiner Frau Klytämnestra verraten und vom Nebenbuhler Aegisth ermordet worden. Orest wiederum hat diese Tat gerächt und die Mutter getötet. Seither verfolgen ihn die Erinnyen, denen er nur durch den Tod entrinnen zu können glaubt.
Glucks Oper bringt die inneren Konflikte seiner Figuren zum Klingen: Die Knappheit der dramaturgischen Anlage erlaubt die Konzentration auf archetypische Bilder, die Wiedererkennung der Geschwister, den xenophoben Argwohn des Königs, Albträume eines geplagten Gewissens, die humane Großmut der Titelheldin.

Ein veritabler Showdown erwartet das Publikum im Finale des vierten Akts: Pylades erscheint mit einer griechischen Streitmacht, um Orest gegen die Aggression des Skythen-Herrschers zu verteidigen. Thoas fällt im Kampf, die daraufhin entbrennende Schlacht beendet die Dea ex Machina: Diana erscheint, verbietet weitere Menschenopfer in ihrem Tempel und befiehlt den Griechen, ihren Altar in die Heimat zurückzuführen. Utopisch scheint die Versöhnung zwischen den Völkern, die zum Happy End in C-Dur beschworen wird, wie die hehre Tat der Leonore in Beethovens „Fidelio“.

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