Orchesterreigen: Novitäten aus Tradition

(c) Salzburger Festspiele/Monika Rittershaus
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Die Wiener Philharmoniker huldigen „ihren“ Komponisten und deuten Werke aus ihrer Uraufführungsgeschichte neu, namhafte Klangkörper zwischen Boston und Israel reisen an: ein illustrer Salzburger Orchesterreigen – mit Maestri von A wie Andris Nelsons bis Z wie Zubin Mehta.

Diese Symphonie ist die Schöpfung eines Giganten und überragt an geistiger Dimension, an Fruchtbarkeit und Größe alle anderen Symphonien des Meisters [. . .] Es war ein vollständiger Sieg des Lichts über die Finsternis, und wie mit elementarer Gewalt brach der Sturm der Begeisterung aus, als die einzelnen Sätze verklungen waren.“ So ekstatisch berichtete Hugo Wolf einem Freund über die Premiere von Anton Bruckners Achter Symphonie am 18. Dezember 1892 im Wiener Musikverein unter Hans Richter. Es spielten die Wiener Philharmoniker – also jenes Orchester, das fast zwanzig Jahre zuvor mit Bruckners Zweiter unter der Leitung des Komponisten einen großen Erfolg erzielt hatte, ihn dann aber lang nur die kalte Schulter sehen ließ: Selbst unweigerlich verstrickt in die künstlerischen Grabenkämpfe des 19. Jahrhunderts baten die Philharmoniker Bruckner kein zweites Mal ans Pult. Seit der Fürsprache Richters freilich konnte das Meisterorchester an Bruckners Musik wiedergutmachen, was es einst am Komponisten verabsäumt hatte. Im heurigen Festspielsommer darf Bruckners Achte deshalb nicht fehlen – und Symphonien seines (echten oder nur vermeintlichen) Antipoden Brahms auch nicht.

St. Florian und San Francesco di Arezzo. Denn in den Konzerten der Philharmoniker, die traditionell das Rückgrat des Salzburger Orchesterprogramms bilden, erklingen 2015 und 2016 große Werke, die der Klangkörper entweder uraufgeführt hat oder die zumindest eng mit seiner Geschichte verbunden sind. Mit dem mittlerweile 86-jährigen, gerade als Bruckner-Dirigenten hoch verehrten Bernard Haitink werden die Philharmoniker also die Achte darbieten. „Ich sehe, dass das Musik von einem tief gläubigen Mann ist, daran gibt es keinen Zweifel. Sie ist auch vom Orgelklang geprägt, von St. Florian, das gehört alles dazu“, erklärt der zutiefst uneitle, ganz das Werk in den Mittelpunkt rückende Maestro der alten Schule. Bruckner sei für ihn „der Einzige“ gewesen, „der immer da war. Er hat immer um die Ecke geguckt, und ich habe gesagt: Ja, das will ich. Die anderen nicht. Das ist alles auf meinem Weg gekommen. Und ich bin froh, dass ich den ‚Ring‘ dirigieren konnte. Es war wichtig, auch für Bruckner. Wenn ich einmal eine alte Aufnahme von mir höre, was ich ungern tue, dann spüre ich, das war noch vor Wagner. Wer die ‚Götterdämmerung‘ dirigiert hat, wer das durchlebt hat – da, die Coda in der Achten Bruckners, das ist ‚Götterdämmerung‘.“

Doch auch der jüngste im Salzburger Bunde der philharmonischen Dirigenten setzt sich für Bruckner ein. Yannick Nézet-Séguin, gerade 40 Jahre alt geworden, aber noch durch seinen Mentor Carlo Maria Giulini auf die Musik des Meisters von St. Florian eingeschworen, bringt die große f-Moll-Messe zum Klingen – und wirft mit Bohuslav Martinůs „Fresken des Piero della Francesca“ nicht nur einen musikalischen Blick auf die mystischen Frührenaissancemalereien rund um die Legende des Wahren Kreuzes in der Kirche San Francesco di Arezzo, sondern reflektiert auch die Festspielgeschichte mit: 1956 dirigierte Rafael Kubelík die Philharmoniker bei der Uraufführung.

(c) Salzburger Festspiele/Silvia Lelli

Sommerfrische und vermeintlich Anrüchiges. Zweimal Bruckner, das verlangt gleichsam nach zweimal Brahms: Riccardo Muti wird bei seinem traditionellen Salzburger Ferragosto-Konzerttermin (zu Mariä Himmelfahrt) dessen in Kärnten entstandene Zweite dirigieren, die einer Pastorale nach einer Gewitternacht ähnelt. Seine neue Symphonie, meldete der Komponist dem Freund Eduard Hanslick, werde „so heiter und lieblich klingen, daß Du glaubst, ich habe sie extra für Dich oder gar Deine junge Frau geschrieben! Das ist kein Kunststück, wirst Du sagen, Brahms ist pfiffig, der Wörther See ist ein jungfräulicher Boden, da fliegen die Melodien, daß man [sich] hüten muß, keine zu treten.“ Verbale Tritte teilte Wiens wortgewaltiger Kritikerpapst Hanslick in der „Neuen Freien Presse“ einst freilich nicht nur gegen Wagner und Bruckner aus: Die Uraufführung von Tschaikowskys Violinkonzert im Musikverein quittierte er mit dem naserümpfend geäußerten Gedanken, „ob es nicht auch Musikstücke geben könnte, die man stinken hört“. Die Geschichte hat Hanslick da längst in die Schranken gewiesen, das Werk zählt unbestritten zu den anspruchsvollsten und zugleich populärsten der ganzen Violinliteratur. Wenn unter Mutis Leitung sich diesmal Anne-Sophie Mutter erneut dieser Herausforderung stellt, dann feiert sie damit nicht nur den 175. Geburtstag des Komponisten, sondern auch ein persönliches Jubiläum: 1985, auf den Tag genau 30 Jahre zuvor, hat sie das Werk erstmals in Salzburg gespielt – mit Herbert von Karajan am Pult.

Symphonische Abgesänge. Apropos Karajan, der 1971 den 30-jährigen Muti für „Don Pasquale“ nach Salzburg geholt hatte: Zwei Jahre zuvor schon war ein unerschrockener Student durch ein Fenster in die Leningrader Philharmonie eingestiegen, um das Gastspiel der Berliner unter Karajan miterleben zu können, ohne eine Karte zu besitzen. Unglücklicherweise war der junge Mann jedoch so ins Damen-WC gelangt – und wurde noch vor Konzertbeginn abgeführt. 1985 schon nannte Karajan den Namen des mittlerweile 33-Jährigen als möglichen Nachfolger in Berlin: Semyon Bychkov. Dieser winkte sogleich ab, um sich anderswo in Ruhe zu einem charismatischen Musiker zu entwickeln, der mit den Wiener Philharmonikern zuletzt in Staatsoper und Musikverein Triumphe feiern konnte. In Salzburg stellt Bychkov Brahms’ knapper und zugleich extremer Dritter die monumentale, durch vielfältige innere Bezüge gekennzeichnete Zweite von Franz Schmidt gegenüber: eines der letzten Zeugnisse spätromantisch-tonaler Aufwallung, komponiert am Vorabend des Ersten Weltkriegs – und zugleich (gerade durch die oft vielfach verästelten Streicherstimmen) das vielleicht schwierigste Stück der gesamten symphonischen Literatur. Als Cellist im Hopfopernorchester und bei den Philharmonikern wurde Schmidt leider ein – musikalisch über alle Zweifel erhabenes – Opfer von Gustav Mahlers undiplomatischem Temperament.

Dass wiederum Mahlers Neunte Symphonie erst posthum 1912 unter Bruno Walter uraufgeführt werden konnte, hat ihre Rezeptionsgeschichte stark beeinflusst. Der lange Zeit nahezu unwidersprochen gebliebenen Annahme, Mahler habe hier seinen eigenen nahen Tod gemeint, begegnet man heute mit gutem Grund sehr skeptisch. Auch Daniel Barenboim hält sich bei diesem Werk lieber an die Partitur als an außermusikalische Zuschreibungen – weil Musik immer mehr und größer sei als das, was wir mit Worten über sie aussagen können.

(c) Salzburger Festspiele/Wolfgang Lienbacher

Von Boston . . . Sind schon die Wiener Philharmoniker für die Identität der Festspiele unverzichtbar, ist es auch die Fülle von unterschiedlichen Zugängen und Anregungen, die der Reigen der prominenten Gastorchester aus Fern und Nah versammelt. Von den amerikanischen Big Five kommt heuer das Boston Symphony Orchestra unter seinem neuen, mit 36 schon hoch gehandelten Chef Andris Nelsons mit Mahlers niederschmetternder Sechster, Schostakowitschs zuletzt triumphierender Zehnter und Strauss’ tragikomischem „Don Quixote“, bei dem Yo-Yo Ma mit seinem Violoncello den Ritter von der traurigen Gestalt verkörpert. Der gelernte Wiener Zubin Mehta breitet mit Israel Philharmonic den Klangzauber von Schönbergs „Verklärter Nacht“ aus, läutet mit dessen 1. Kammersymphonie eine neue Zeit ein und lässt in Tschaikowskys „Pathétique“ die Stürme des Lebens und des Todes toben. Schönberg und Tschaikowsky stehen auch bei Barenboims West-Eastern Divan Orchestra auf dem Programm, erweitert um Beethoven, Wagner, Debussy und Boulez. Diese völkerverbindende Kaderschmiede besitzt im Gustav-Mahler- Jugendorchester ihr Pendant: Der dann 88-jährige Herbert Blomstedt lässt die mitreißenden Jungen da zuletzt mit Dvořák aus der neuen Welt grüßen.

. . . über Budapest nach Berlin. Längst zum gewohnten guten Ton gehören daneben Originalklangensembles wie Les Musiciens du Louvre Grenoble, die unter Marc Minkowski zum Festspielauftakt Haydns großartige „Schöpfung“ vor unseren Ohren entstehen lassen, sowie der Concentus Musicus Wien, der sich gemeinsam mit dem unermüdlichen Nikolaus Harnoncourt Beethovens monumentaler „Missa solemnis“ stellt.

Das Budapest Festival Orchestra gastiert unter Iván Fischer mit Bartók und Mahlers Vierter, dessen Erste Cornelius Meister ebenso einstudiert wie Boulez’ „Rituel“: Bei diesem Werk in memoriam Bruno Maderna wird das ORF Radio-Symphonieorchester Wien das Publikum in der Felsenreitschule umringen. Zuletzt machen auch noch die Berliner Philharmoniker ihre traditionelle Stippvisite, für die Sir Simon Rattle eine kleine, leichte und eine große, schwere Rarität ausgesucht hat: Benjamin Brittens frühe Variationen op. 10 über ein Thema seines Lehrers Frank Bridge und Schostakowitschs kühne, lang unter Verschluss gehaltene Vierte.

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