Philharmoniker-Tradition, Avantgarde-Jubiläen

András Schiff
András Schiff(c) ECM
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Das Konzertleben. Eine große Bestandsaufnahme zur Sommerszeit: über klassische Formgebung und deren Sprengung, über Konzepte der musikalischen Moderne und deren Negation. Orchester- und Solistenkonzerte auf historischen Spuren.

Seit Jahr und Tag bilden die Wiener Philharmoniker das musikalische Rückgrat der Salzburger Festspiele. Für den Sommer 2015 hat sich das Orchester eine besondere Leistungsschau vorgenommen: Man präsentiert Werke bedeutender Komponisten, die von den Philharmonikern aus der Taufe gehoben wurden. Dabei begegnet man nicht nur guten alten Bekannten!

Selbstverständlich dürfen bei einer solchen Retrospektive Meilensteine der symphonischen Geschichte wie Anton Bruckners Achte und Johannes Brahms' Zweite nicht fehlen. Auch Gustav Mahlers letzte vollendete Symphonie, die Neunte, steht auf dem Programm, denn sie kam posthum unter Bruno Walters Leitung in einem „Philharmonischen“ zur Uraufführung, eine letzte Hommage an den komponierenden einstigen Hofoperndirektor, mit dem die Musiker ja nicht nur freundlich umgegangen waren.

Besonders schön in diesem Zusammenhang: Im letzten Konzert der Wiener im diesjährigen Festspiel-Sommer erklingt neben Brahms' Dritter auch die Zweite Symphonie von Franz Schmidt. Das ist eine veritable Festspiel-Aufgabe, denn dieses Werk, eine Art Summe symphonischer Kompositionstechnik, erklang 1913 das erste Mal und gehört – wiewohl klanglich der Spätromantik zugehörig und voll von rauschhaft schönen Harmonien – zu den technisch extremen Herausfoderungen der Orchesterliteratur.

Schmidt, in Gustav Mahlers Opernära Solo-Cellist der Philharmoniker, gehört jedenfalls zu jenen Meistern, deren Musik einer Aufarbeitung auf festspieltauglichem Niveau bedürfen, will man die Musikgeschichte der Moderne in ihrer ganzen Bandbreite verstehen lernen.

Vernetzungen der Moderne

Den Gegenpol jener neben Schmidt und Mahler von Komponisten wie Korngold, Zemlinsky, Joseph Marx oder Schreker vertretenen, noch auf die althergebrachte Dur-Moll-Tonalität bauenden Richtung markierten die Wiener Meister um Arnold Schönberg, der heuer mit einem Werk im Salzburger Programm vertreten ist, das – wie Schmidts Symphonie – noch der Spätromantik zuzurechnen ist: „Pelleas und Melisande“ nach Maeterlinck erklingt in einem der Gastkonzerte des West-Eastern Divan Orchestra unter Daniel Barenboim.

So werden Querverbindungen in der Verbindung zwischen Konzertprogrammen gastierender Ensembles, die sich auch bei anderen Festivals präsentieren, und eigens für Salzburg erarbeiteten Werkfolgen möglich.

Wirklich singulär steht im sommerlichen Festspiel-Betrieb Europas wohl die Hommage an Großmeister Pierre Boulez da, der heuer seinen 90. Geburtstag feiern konnte.

Ein großer Teil von Boulez' kompositorischem Schaffen wird erklingen, musiziert von Spezialisten wie dem von Boulez gegründeten Ensemble intercontemporain, dem Wiener Klangforum oder dem ORF Radio-Symphonieorchester. Das Klavierduo Pierre-Laurent Aimard und Tamara Stefanovich spielt das pianistische Gesamtwerk des Komponisten.

Unter den Solistenkonzerten des Sommers 2015 sticht übrigens ein weiteres Klavierprojekt heraus. András Schiff kündigt einen auf drei Abenden erstreckten Zyklus „letzter Klaviersonaten“ an. Was zunächst wie Sophisterei anmuten mag, hat Methode: Welchen Weg hat die Musikgeschichte auf jener kurzen Strecke zwischen dem Spätwerk Joseph Haydns, den letzten Sonaten Mozarts und der bis heute geradezu mystifizierten Trias der Beethoven'schen Sonaten op. 109 bis 111 genommen? Und welche Regionen hat nur ein Jahr nach Beethovens Tod der frühvollendete Franz Schubert mit seinen riesenhaften Sonaten in c-Moll, A-Dur und B-Dur erschlossen?

Da spannt sich ein Bogen vom Schaffen jenes Mannes, der die klassische Sonate so recht „erfunden“ hat, bis zum Aufbruch in eine Romantik, die der historisch noch vergleichsweise jungen Sonatenform hoch expressive, ganz persönliche Aussagen anvertraut. András Schiff reflektiert damit ein ähnliches Phänomen, wie wir es auf dem symphonischen Sektor in der Reihe der philharmonischen Konzerte beobachten können: Sie zeichnen den zeitlich kurzen, nicht einmal ein halbes Jahrhundert dauernden Weg nach, der von den Gipfeln der Formgebung bei Brahms und Bruckner zur Sprengung und Auflösung bei Gustav Mahler (1910) einerseits und einer späten, konzentrierten Bestandsaufnahme der Tradition bei Franz Schmidt (1913) führt.

Ein Festspielprogramm, fürwahr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.07.2015)

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