Lederne „Lulu“, schöne Bilder

„Monstretragödie“ als eher monströser Fehlschlag: Frank Wedekinds „Lulu“ in der Regie der Griechin Athina Rachel Tsangari auf der Perner-Insel in Hallein.
„Monstretragödie“ als eher monströser Fehlschlag: Frank Wedekinds „Lulu“ in der Regie der Griechin Athina Rachel Tsangari auf der Perner-Insel in Hallein.(c) APA/BARBARA GINDL
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Athina Rachel Tsangaris originelle Ideen für die „Monstretragödie“ von Frank Wedekind gingen nicht auf. Das Ensemble bekam dennoch viel Applaus, die Regisseurin erntete Buhs.

Große Ballons schweben über die Bühne, auf sie projiziert sind Mädchen mit Pagenköpfen oder Augen, die sich öffnen und schließen, ein gespenstischer Anblick. Ein paar tolle optische Eindrücke bleiben von Athina Rachel Tsangaris „Lulu“-Inszenierung auf der Halleiner Perner-Insel. Gezeigt wird die Urfassung des Wedekind-Stückes, das heute weniger krass wirkt als im 19./20. Jahrhundert, als die „Monstretragödie“ Skandale provozierte.

Wedekind polemisierte gegen den modischen Symbolismus. Schonungslos beschrieb er die Verhältnisse, vor allem die rasanten wirtschaftlichen Berg- und Talfahrten, die seinen Hochstapler Marquis von Keith zu dem pointierten Ausspruch veranlassen: „Das Leben ist eine Rutschbahn.“ Zwei profilierte Schauspieler verabschiedeten sich vorzeitig von dieser „Lulu“, Martin Wuttke und Philipp Hauß. Arge Verluste, markante Mimen fehlen dieser Aufführung, die ledern geraten ist wie selten eine.

Dabei könnte „Lulu“ mit ihren saftigen Typen so leicht gelingen, aber irgendwelche Experten, die die schmutzige „Lulu“ unbedingt in den literarischen Olymp katapultieren wollten – wo sie sowieso hingehört –, haben behauptet, es gehe hier nicht um Sex & Crime. Seither kommt „Lulu“ nicht mehr aus der sterilen Kunstspirale heraus. Wer hilft ihr auf? Oder liest wenigstens die Widmung? Wedekind beschrieb offenbar das zügellose Leben des Malers Willy Grétor.

Rollentausch und Aufspaltung

Ein „Lulu“-Schicksal findet sich oft: Ein zwielichtiger Geschäftsmann liest ein Kind von der Straße auf, vergewaltigt es, bald lernt die süße Kleine mit Männern umzugehen, umzuspringen. Ein Journalist ist der erste, der sich mit der Lolita näher beschäftigt, er führt sie in die bessere Gesellschaft ein. Sie ehelicht einen reichen, kinderlosen Arzt, der sie in frivole Kostüme steckt und ihr beim Tanzen zusieht: ein impotenter Voyeur. Der Doktor lässt seine junge Frau malen, der Maler wird ganz geil, er rennt hinter ihr her, sie zerstört sein Bild. Ein entscheidender Moment. Hier gestrichen. Der Arzt erwischt Maler und Modell. Er fällt tot um. Das Mädchen ist nun reich und heiratet den Künstler . . . Und so weiter. Doch weil zu Wedekinds Zeiten die Männer das Sagen hatten und „verworfenen Geschöpfen“ nur das Hurendasein blieb, ermordet ein Perverser Lulu. Tsangari hatte spannende Ideen. Sie wollte das Androgyne in Beziehungen zeigen. Zu Wedekinds Zeiten wollten Frauen aus ihren angestammten Rollen flüchten, nach allen Richtungen, meist durften sie das nicht tun.

Heute ist das schwerer nachvollziehbar, Homo- und Bisexualität sind nicht mehr sanktioniert, jeder kann nach seiner Façon glücklich werden, er schafft sich allenfalls persönliche, aber keine politischen oder sozialen Probleme. Das Androgyne ist in „Lulu“ nicht das Hauptthema, denn vorrangig geht es um die zeitlose Verführungskraft eines schönen Weibes und die Brutalität oder Verklemmtheit der Männer. Ihr Konzept unterfütterte Tsangari mit der Aufteilung der „Lulu“ auf drei Frauen, die im Chor sprechen, und mit Rollentausch von Männern und Frauen. Wer das Stück nicht gut kennt, den verwirrt das. Die Aufführung leugnet ferner über weite Strecken, um welch heißen Stoff es hier geht, um die Abtötung des Sexualtriebes, der tödliche Krankheiten zur Folge haben konnte, um Sozialdarwinismus und den Verlust der Existenz. Journalist Schöning muss (wie Egon Schiele) eine anständige Frau finden, er kommt aber nicht von Lulu los, sie nicht von ihm. Wer wie Maler Schwarz „eine halbe Million“ heiratet, nämlich Lulu, die Geld vom toten Arzt geerbt hat, kann seine Karriere starten.

Punkte für Rodrigo und die Geschwitz

Schwarz will aber auch noch echte Liebe, und ein kindischer, narzisstischer Künstler ist er außerdem. Nachdem er bemerkt hat, dass Lulu nicht zu seiner braven Gattin taugt, sondern ein abgefeimtes Liebchen vieler ist, schneidet er sich die Kehle durch, keineswegs aus romantischer Sentimentalität, sondern weil die Grundlage seines Daseins zerstört ist: Ohne Lulu, die Frau, die er irrtümlich glaubte zur Mutter zurechtzähmen zu können, ist Schwarz unfähig zu malen. Hier sprechen graue oder aufgeschminkte Figuren gedeckt und sachlich über die Zynismen, Grausamkeit, Schmerzen, die Wedekind beschrieb. Es geht zu wie bei einem Symposion über neue Medikamente gegen Sex & Crime. Erst am Ende offenbaren Tsangaris Kinobilder ihre Kraft.

Von den drei Lulus (Ariane Labed, Isolda Dychauk, Anna Drexler) ist keine wirklich eine Lulu, oder sie durften es nicht sein. Nur zwei Figuren überzeugen, Benny Claessens als Rodrigo Quast, ein listiger Lustknabe, und Fritzi Haberlandt als lesbische Gräfin Geschwitz, die das Drama der als Gier getarnten Sehnsucht nach Geborgenheit in einer profitgesteuerten Welt enthüllt.

Vielleicht wäre Tsangari mit einem Film oder bildender Kunst mehr Erfolg beschieden gewesen. Dem Zuseher bleiben Erinnerungen an die eine oder andere tolle „Lulu“ (Susanne Lothar in Peter Zadeks Regie, zu sehen bei den Wiener Festwochen), Roland Koch als getriebener Journalist Schöning oder Ignaz Kirchner als köstlich perfider Schigolch in der Burgtheater-Version (1999).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.08.2017)

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