Der Song Contest: Die Großmutter aller TV-Erfolgsformate

NON SPORTS - Eurovision Song Contest 2015
NON SPORTS - Eurovision Song Contest 2015GEPA pictures
  • Drucken

Der Fernsehgesangswettbewerb Eurovision Song Contest, kurz ESC, trug bereits bei seinem Debüt 1956 alle Elemente heutiger TV-Erfolgsformate in sich. Ein etwas anderer Blick in dieses Labor für die Quintessenz des Quotenfernsehens.

Im Wiener Frühling erlebte der Eurovision Song Contest seinen 60. Frühling. Und obwohl sich der häufig persiflierte, oft gescholtene und wiederholt totgesagte Wettbewerb scheinbar wie ein Fossil aus der Steinzeit des Fernsehens ins Heute hinübergerettet hat, trägt er bereits in seiner Urform alle Formate in sich, die das Fernsehen auch im 21. Jahrhundert noch gegen Internet und Co. bestehen lassen. Eigentlich waren mit dem Grand Prix Eurovision de la Chanson (wie der Wettbewerb ursprünglich hieß) im Jahr 1956 alle wesentlichen Elemente des heutigen Fernsehens schon zu Ende erfunden. Schaut man genauer hin, lassen sich aus dem Song Contest nämlich folgende Konstanten erfolgreichen Fernsehmachens destillieren.

Live-Event

Mit dem Ende von „Wetten, dass..?“ sei im deutschsprachigen Raum das Lagerfeuer der Nation erloschen, lautet ein Stehsatz feuilletonistischer Fernsehbetrachtung. Kein Programm mehr, bei dem sich vom Großvater bis zur Enkelin alle auf der Wohnzimmercouch treffen, um zusammen fernsehend den Abend zu verbringen, und sich die Woche über noch über das gemeinsam Gesehene austauschen. Doch abgesehen von den vielen kleinen Lagerfeuern, vor denen sich Social Media-Nomaden regelmäßig virtuell versammeln, um dort kurz zu verharren, um gleich zum nächsten wärmenden digitalen Plätzchen weiterzuziehen. Das im Fernsehen übertragene Live-Event hat an generationenübergreifender Anziehungskraft nichts eingebüßt. Egal, ob großes Sportevent, Ereignisse von zeithistorischer Dimension oder ein Sprung aus der Stratossphäre: Menschen versammeln sich immer gemeinsam vor Bildschirmen.

Casting-/Realityshow

Egal, was heute im Fernsehen angeboten wird: Soll es erfolgreich sein, müssen Teilnehmer hinausgewählt werden können, und am Ende muss es einen Sieger geben. Der Song Contest hat dieses Prinzip schon 40 Jahre vor der ersten „Big Brother“-Staffel im deutschen Privatfernsehen entdeckt. Das Mitfiebern mit einer Jury, die Punkte vergibt und schließlich einen Sieger kürt, ist – genauso wie das Beobachten der nervösen Kandidaten beim Warten auf die Entscheidung – der Kern des Erfolgsformats Castingshow. Durch die im Laufe der Zeit eingeführten Ländervorausscheidungen mit Publikumsbeteiligung ist der Song Contest längst so etwas wie die Finalshow dieser größten europäischen Castingshow.

Wettbewerb der Nationen

Die wahren Geld- und Aufmerksamkeitsmaschinen unserer Zeit sind große Sportereignisse. Fußballendrunden, Olympische Spiele, Superbowl, NBA-Finale oder – in Großbritannien oder Pakistan – die Cricket-Weltmeisterschaften ziehen mitunter Milliarden Menschen in ihren Bann. Der emotionale Hebel, um diese Massen bewegen zu können, ist die friedliche Form des Wettbewerbs zwischen Nationen. Ganze Staaten geraten über Wochen in Ausnahmezustand, wenn ihrer Mannschaft der Sieg gelingt. Österreich durfte diese Form des kollektiven Erfolgserlebnissen vergangenes Jahr beim Sieg von Conchita Wurst auskosten.

Erfolg in Serie

Wer heute fernsieht, tut dies zumeist mit einem zweiten Bildschirm in der Hand. Mit dem Smartphone teilen wir Eindrücke mit Freunden oder verfolgen über Twitter und Liveticker die Reaktion anderer. Doch lange vor dem Second Screen hat uns beim Song Contest der zweite Lautsprecher begleitet. Das Komikerduo Stermann und Grissemann hat den Song Contest via Radio quasi live persifliert. Dieses Augenzwinkern ist längst fixer Bestandteil des Wettsingens.

Second Screen

The Big Thing im Fernsehen ist aber schon seit Längerem die Serie. Oft werden als Grund für den Höhenflug des Fortsetzungsformats die hochwertigen Produktionen ins Feld geführt. Doch dahinter steht natürlich auch Bequemlichkeit. Wer sich einmal das Serienpersonal erarbeitet hat, kann sich mitunter 80 Stunden lang am Stück von guten Bekannten unterhalten lassen. Auch der Song Contest lebt von einer Abfolge über Jahrzehnte gelernter Rituale. „And finally twelve points...“ können längst alle mitsprechen.

Eurovision Song Contest

60 Jahre. Der Song Contest, der bis 2001 in deutschsprachigen Ländern als Grand Prix Eurovision de la Chanson bekannt war, wird in diesem Jahr zum 60.Mal ausgetragen. Anregung für den Musikwettbewerb war das italienische Sanremo-Festival.

Initiator des Bewerbs war 1956 die European Broadcasting Union (EBU), ein Zusammenschluss von heute 73 Rundfunkanstalten aus Staaten in Europa, Nordafrika und Vorderasien. All diese Länder haben ein Recht, aber nicht die Pflicht, an dem Bewerb teilzunehmen. Oder wie die deutsche Sängerin Christiane Rösinger in ihrem Song-Contest-Reisebuch „Berlin–Baku“, 2013) schreibt: „Wer Empfang hat, ist drin.“
Die Zahl der Länder ist im Lauf der Jahrzehnte von sieben auf 40 gestiegen, seit 2004 gibt es zwei Vorausscheidungen.

wie Geht es weiter?

Das Gewinnerland 2015 wird den Eurovision Song Contest 2016 austragen – falls Australien Sieger sein sollte, wäre der ORF dafür bereit (wenn Australien zahlt), aber auch Deutschland.

Die Bühne wird in ihre 1300 Einzelteile zerlegt. Was nicht geliehen ist (wie die Video-Wand) oder weiter verwendet wird, wird recycelt (der ESC ist „Green Event“).

Wir sind Weltrekord! Vor dem Finale wurde der ESC ins Guinness Buch der Rekorde aufgenommen – als „am längsten laufender jährlicher TV-Musik-Wettbewerb“. Ein Sieg – auch für Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.05.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

AUSTRIA EUROVISION SONG CONTEST 2015
Song Contest 2024

Traurige Wahlfinnen

Der ESC fördert das Einlassen mit dem Fremden.
Singer Angell of France performs the song 'N'oubliez Pas' during the final of the 60th annual Eurovision Song Contest in Vienna
Song Contest 2024

Zwölf Punkte für die Show

Der ORF hat mit dem Eurovision Song Contest die größte TV-Show seiner Geschichte gestemmt.
EUROVISION SONG CONTEST 2015: EUROVISION VILLAGE / FANS
Song Contest 2024

Fröhlich steht Wien gut

Kinder merken, dass etwas anders ist.
EUROVISION SONG CONTEST 2015 -  FINALE/ FANS
Song Contest 2024

Sanfter Nationalismus

Die Fahne – das wichtigste Utensil des ESC-Fans.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.