Das neue Wir-Gefühl

Picknick im Stadtpark
Picknick im Stadtpark(c) Clemens Fabry
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Restaurants, die Speisen nicht mehr einzeln servieren, Urban Gardening oder die neue Liebe zum Grätzel. Das Gemeinsame löst den Individualismus ab.

Am Anfang war es eine lange Tafel. Eine, an der Restaurantgäste, die einander (noch) nicht kannten, ganz ungezwungen gemeinsam Platz nahmen. Das sorgt für eine freundschaftliche, gemütliche Atmosphäre. Mittlerweile werden die Tische zwar wieder kleiner, doch hat das nichts mit dem Wunsch nach Abkapselung der Gäste zu tun. Im Gegenteil. Mittlerweile spart sich der Wirt manchmal die einzelnen Teller, hievt einfach eine große Pfanne oder Platte in die Mitte des Tisches und fordert seine Gäste auf, gemeinsam, wie bei einer großen Familie, von der Mitte des Tisches zu essen.

„In da Rein“ nennen es die Betreiber des Badeschiffs, die Schweinsbraten, Knödel, Strudel oder Süßes in großen Pfannen servieren. „Family Style“ heißt es im lateinamerikanischen Mercado. Und selbst das gehobene Loft im Sofitel am Donaukanal will sich nun einen Hauch bodenständiger präsentieren – und setzt auf „Sharing“. Neu ist diese Form der kollektiven Ausspeisung natürlich nicht. Lediglich eine Reminiszenz an eine idealisierte gute alte Zeit – auf Bauernhöfen war es früher üblich, dass alle aus demselben Topf ihr Essen löffelten.

Individuell im Kollektiv

Die Wiederentdeckung des nostalgischen Gemeinschaftsessens ist nur ein Aspekt eines neuen Wir-Gefühls, das momentan zunehmend propagiert wird. Während es vor ein paar Jahren noch darum ging, sich möglichst individuell zu präsentieren, sich von den anderen zu unterscheiden, wird heute das Gemeinsame hervorgehoben. Auch wenn sich die Teilnehmer des kollektiven „In da Rein“-Essens gerade durch dieses Erlebnis besonders und individuell fühlen. Und das Gemeinsame insofern unverbindlich ist, als man nach dem gemeinsamen Essen wieder aufstehen und allein weggehen kann.

Wenn nicht gemeinsam gegessen wird, wird gegärtnert – Stichwort Urban Gardening –, via Foodcoops gemeinsam beim Bauern eingekauft und ganz generell lieber geteilt statt gekauft – etwa ein Auto. In den Städten wird anstelle der einst geschätzten Anonymität das Grätzel entdeckt und bei eigenen Grätzelfesten, gern inklusive Food- oder Designmärkte, gefeiert. Ganz zu schweigen vom gemeinsamen Stricken oder Nähen in entsprechenden Cafés. Man kennt einander, und man ist nicht allein.

Gründe für dieses neue Wirgefühl gibt es viele. „Die Anzahl der Ein-Personen-Haushalte und die Sehnsucht nach einem Wirgefühl hängen stark zusammen“, sagt etwa der Psychologe Wolf-Dietrich Zuzan. Ein Blick in die Statistik macht deutlich, dass österreichische Haushalte immer kleiner werden. Aktuell liegt die durchschnittliche Haushaltsgröße laut Statistik Austria bei 2,23 Personen. Bei 37 Prozent aller Privathaushalte handelt es sich bereits um Single-Haushalte. Wer also theoretisch jeden Abend ungestört in seiner Wohnung verbringt, schätzt es vielleicht, zumindest bei diversen Freizeitgestaltungen in Gesellschaft zu sein.

Hinzu kommen – und das ist wohl der Hauptgrund für das Zusammenrücken – die wirtschaftlichen Umstände. Wirtschaftspsychologe Alfred Lackner spricht von einer natürlichen Balance zwischen Ich- und Wirkräften (siehe Interview rechts). Wenn eine Gesellschaft zu lang ichorientiert war, strebt sie automatisch zum Wir. Dabei handelt es sich aber meist um eine pragmatische Entscheidung, die auch durchaus egoistische Hintergründe haben kann: Wer es allein nicht schafft und mit der Ellbogentaktik nicht weiterkommt, denkt um, sucht sich Verbündete und probiert es mit der Gemeinschaft. Dieser Pragmatismus findet sich unter anderem auch in der Shared Economy wieder. Es geht dabei um einen ökonomischen Vorteil durch Teilen – das Wir-Gefühl muss dabei nicht unbedingt ausgeprägt sein. Beim Carsharing etwa steht im Vordergrund, dass man sich mit dem Teilen Geld spart, weil man kein eigenes Auto zu erhalten braucht und dennoch mobil sein kann.

Erst kommen die Jungen

Zuzan ist ebenso wie sein Kollege Lackner der Meinung, dass Carsharing immer noch nicht wirklich funktioniere. „In der Stadt noch eher, aber sobald die jungen Menschen eine Familie gründen und aufs Land ziehen, ist das nicht mehr praktikabel“, sagt der Psychologe. Es brauche eben noch mehr Zeit, um dem eigenen Pkw wirklich Konkurrenz zu machen. Lackner sieht das ähnlich: „Man muss bedenken, wie viele Autos gekauft werden und wie viele wirklich gebraucht werden, auch global gesehen, etwa in China. Autos sind immer noch ein gutes Statussymbol für die Ichseite.“

Den Siegeszug eines kollektiven Wir-Gefühls sieht Zuzan noch nicht – aber jedenfalls gebe es schon einige Zeichen, die in diese Richtung deuten. Natürlich gebe es immer wieder Nischen, in denen die Gemeinschaft im Vordergrund stehe. Allerdings gebe es dafür nicht immer ein öffentliches Bewusstsein, etwa wenn sich das Ganze auf dem Land abspielt. Jetzt aber werde auch von jungen, vorwiegend in der Stadt lebenden Menschen das Gemeinsame entdeckt – etwa bei diversen Projekten wie Gemeinschaftsgärten oder Grätzelinitiativen. Und was junge Menschen heute machen, kann schon morgen im gesellschaftlichen Mainstream gelandet sein.

Flexibilität statt Sicherheit

Deutlich wird das auch in unserer Arbeitskultur. Junge Menschen wachsen heute mit ganz anderen Voraussetzungen und Gegebenheiten als ihre Vorgängergeneration auf. Während früher Karrieren und Lebensläufe mehr oder weniger vorgegeben waren, gibt es heute weit mehr Flexibilität und die Möglichkeit zur individuellen Entscheidung. Das wiederum hat ihren Preis, nämlich die Sicherheit. Und wenn die Sicherheit – etwa in Form einer lebenslangen Anstellung – wegfällt, wird das Zusammenrücken wichtiger. Hinzu kommt, dass Institutionen – von politischen Parteien bis zur Kirche – an Bedeutung verlieren. Was in der Elterngeneration noch ein hohes Ansehen hatte, wird bei den Jungen durch neue Bezugspunkte ersetzt. Das kann der Freundeskreis oder die Grätzelgemeinde sein, aber auch ganz generell die Mitmenschen an sich.

Ende der Ellbogentaktik

Es wird aber wohl noch ein bisschen dauern, bis sich auch in der Arbeitswelt überall das Wir durchsetzt. Denn an den großen Schalthebeln sitzen oft noch jene, die gelernt haben, auf die Ellbogentaktik zu vertrauen. Wirtschaftspsychologe Lackner hat das bei seiner Arbeit mit Führungskräften beobachtet. Er berät Unternehmen und arbeitet mit ihnen Führungskräfte-Leitlinien aus. Dazu lässt er die Teilnehmer formulieren, was aus deren Sicht besonders wichtig für den Erfolg des Unternehmens sei. „Wir sammeln diese Werthaltungen und Eigenschaften. Die Dinge, die am Ende rauskommen, sind genau die, die im Augenblick nicht gelebt werden. Wenn eine ichorientierte Kultur herrscht, dann schreiben sie ,respektvoller Umgang‘ oder ,wertschätzende Kommunikation‘ auf, also Wir-Seite“, sagt Lackner. Nachsatz: „Die meisten Menschen reden über das, was nicht da ist.“ Dass derzeit so viel über das Wir geredet wird, hat für ihn also damit zu tun, dass es zuvor vernachlässigt wurde und es demnach ein verstärktes Bedürfnis danach gibt.

Das weiß mittlerweile auch die Industrie, die auf diese Werteverschiebung reagiert. Trendforscherin Li Edelkoort, die international zu den Großen ihrer Zunft zählt und globale Konzerne wie Coca-Cola, Camper oder Siemens berät, meinte dazu kürzlich: „Individualität ist nicht mehr gefragt, Kollektivität ist angesagt, das heißt, wir werden in Zukunft entscheiden, wie wir unseren gemeinsamen Lebensraum verbessern können.“

Auch das Hamburger Zukunftsinstitut widmet seine jüngste Studie dem Thema „Wir-Kultur“, spricht ebenso von einem Ende des Individualismus und führt noch einen wichtigen Aspekt an: die digitale Vernetzung, die ein permanentes, wenn auch meist nur virtuelles Wir ermöglicht.

Wie weit sich der Wunsch nach einem Mehr an Wir verwirklichen lässt, hängt davon ab, wie weit jeder Einzelne gehen will. Wenn jahrelang das Ich im Vordergrund stand, ist es nicht immer so leicht, umzuschalten und sich selbst und seine eigenen Bedürfnisse zurückzustecken. Auch das wird oft am Restauranttisch deutlich – und das nicht nur dann, wenn es um Unverträglichkeiten oder Ernährungsweisen geht.

Sonderwünsche

So berichtet Badeschiff-Betreiber Gerry Ecker davon, dass das „In der Rein“-Angebot generell zwar sehr gut angenommen wird – „die Leute schätzen das Gemeinsame“ –, doch dass Gäste immer wieder Sonderwünsche äußern und plötzlich beginnen, ein Gemeinschaftsreindl zu bestellen – das aber bitte mit einigen, nennen wir es: Extrawürsten gefüllt ist. Das treibt nicht nur seine Köche in den Wahnsinn, sondern zeigt auch, dass so mancher das Prinzip des gemeinschaftlichen Essens nicht verstanden hat. Oder aber, dass eben nur ein bisschen Wir gefragt ist – und auch in einem einfachen Reindl Platz für Individualismus sein muss.

Wir-Gefühl

Kulinarik
Statt einzelner Teller werden Platten oder Pfannen in die Mitte des Tisches gestellt – etwa im Badeschiff, im Loft oder im Mercado.

Garten, Grätzel & Co.
Gemeinschaftsgärten (z.B. Gartenpolylog) oder Grätzelinitiativen (z.B. Einfach 15) stärken das Wir-Gefühl.

Shared Economy
Teilen statt Kaufen, z. B. Carsharing, Couchsurfing oder Foodcoops.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.05.2015)

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