Slow-Food: "Kühlschränke sind Familiengräber"

Parma Schinken
Parma Schinken(c) Reuters
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Der Gründer der Slow-Food-Bewegung Carlo Petrini im Interview: Warum er auch schon bei McDonald's war und warum er die vielen Kochsendungen im Fernsehen für "gastronomische Pornografie" hält.

Waren Sie eigentlich schon einmal bei McDonald's?

Carlo Petrini: Natürlich. Man muss ja den Feind kennen. Mal ganz abgesehen von dem System, das ich verabscheue – ich kann deren Brot nicht ausstehen. Diese weiche Substanz ohne Geschmack. Aber um klarzustellen: Slow Food führt keinen Krieg gegen McDonald's. Wir wollen eine gewisse Ernährungskultur bekämpfen – diese geschmacksneutrale, alles vereinheitlichende Küche. Für die wird nicht nur die Umwelt zerstört, sondern auch die Qualität ... und die Tradition, sich Zeit zu nehmen und sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen.

Was machen Sie, wenn Sie es sehr eilig haben und hungrig sind?

Selbstverständlich kommt es vor, dass ich schnell ein Brötchen oder ein Toastbrot esse. Glauben Sie, dass ich auf dem Mond lebe? Natürlich sitze ich nicht jeden Tag stundenlang am Tisch.

Wieso gehen Kinder immer noch so gerne zu McDonald's? Neu ist das ja wirklich nicht mehr.

Eltern gehen gerne mit Kindern hin, weil sie sie auf diese Weise eine Zeit lang los sind: In jedem McDonald's gibt es eine Spielecke. Und die Pommes frites, die haben eine magnetische Anziehungskraft. Vor allem, wenn den Kleinen die Sensibilität für das fehlt, was sie essen.

Wie kann man das ändern?

Durch Erziehung. Slow Food eröffnet derzeit gerade weltweit tausende Schulgemüsegärten. Der letzte wurde im Weißen Haus von Michelle Obama eingeweiht. Ziel ist es, dass die Kinder einen direkten Kontakt zu dem Produkt bekommen, das sie essen. Und zur Natur. Wenn die Kleinen erleben, wie Obst und Gemüse wachsen, entwickeln sie genau jenes Gefühl für Lebensmittel, das die meisten Kinder heute nicht mehr haben.

Leiden Slow-Food-Produkte unter der Wirtschaftskrise?

Ja. Aber was mir weitaus größere Sorgen macht, ist, dass die Leute bei Nahrungsmitteln sparen – und das, obwohl diese noch nie so billig waren. In den 1970er-Jahren gab eine durchschnittliche europäische Familie 32 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel aus. Heute schwankt der Anteil zwischen neun Prozent in Großbritannien und zwölf Prozent in Italien. In Italien gibt man übrigens auch zwölf Prozent des Einkommens für das Handy aus! Wenn die Lebensmittelpreise weiter sinken, müssen wir uns nicht wundern, wenn Krankheiten und Umweltzerstörung zunehmen. Ab einem gewissen Preis ist es unmöglich, Qualität zu produzieren. Niedrigere Lebensmittelpreise zu verlangen, weil es eine Krise gibt, ist Demagogie.

Trotzdem: Vor allem Menschen, die es sich leisten können, konsumieren Slow-Food-Produkte.

Immer wieder wird uns vorgeworfen, elitär zu sein. Das verstehe ich nicht. Wir sind in 153 Ländern präsent, wir vertreten Bauern in Ländern wie Burkina Faso, Peru oder Ecuador. Natürlich wollen wir Produkte, die schmecken. Unser Ziel ist ein Hedonismus, der auf Einfachheit basiert. Das Problem ist nicht der Preis. Das Problem ist, dass Nahrungsmittel keinen Wert mehr haben. Sie sind wie Treibstoff, den man in großen Mengen hortet. In Italien landen täglich 4000 Tonnen Lebensmittel im Müll, in den USA sind es 22.000 Tonnen. Weltweit wird doppelt so viel produziert, wie verbraucht wird, und trotzdem verhungern Menschen. Wenn wir gutes Essen für alle wollen, müssen wir weniger verschwenden.

Wird Essen heute nicht überbewertet? Kochbücher, Ratgeber für Diäten und gesunde Ernährung füllen meterweise die Regale in Buchgeschäften. Im Fernsehen sind Köche omnipräsent.

Das ist gastronomische Pornografie! Sobald man den Fernseher einschaltet, ist da jemand, der mit Kochlöffeln und Kochtöpfen herumfuchtelt. Und erst die Rezepte: Rezepte, Rezepte – überall Rezepte! Doch Rezepte und Kunststücke mit Kochgeräten – das allein ist noch lange keine Gastronomie. Gastronomie ist eine ziemlich komplexe Wissenschaft mit einem holistischen Ansatz. Wirtschaftliche, anthropologische, ökologische und gesundheitliche Aspekte gehören genauso dazu wie kulinarische.

Die „New York Times“ hat Slow Food „das Greenpeace des guten Geschmacks“ genannt. Sie haben ihre Karriere in der Politik begonnen. Ist Ihr Engagement politisch?

Es ist wichtig, eine „politische Gastronomie“ zu entwickeln. Wir leben ja alle, weil wir essen. Essen muss mehr als nur ein angenehmer Zeitvertreib sein, wir müssen bewusst essen. Wir wollen der Ernährung ihren wahren Wert zurückgeben. Notwendig ist, dass der Konsument informiert wird, dass er weiß, was er zu sich nimmt und woher das Produkt stammt. Eine Lösung ist der direkte Kontakt zwischen Produzenten und Konsumenten – etwa durch die Wiederbelebung von Lokalmärkten.

Das klingt wie eine schöne Utopie.

Die Dinge verändern sich. Es gibt eine neue Sensibilität: Die neue US-Regierung etwa entwickelt derzeit einen Plan, um kleine Bauernbetriebe zu fördern.

Sie kommen nächste Woche nach Österreich. Mögen Sie die österreichische Küche?

Es ist eine Küche mit starken, auch familiären, Wurzeln. Das schätze ich sehr. Sie verdient mehr Aufmerksamkeit. Es gibt eine kreative Küche mit sehr hohem Niveau, die an wunderschönen, traditionellen Orten serviert wird. Wenn ich nach Österreich komme, möchte ich diese lokale Vielfalt kennenlernen. Mich interessiert da gar nicht das Sternerestaurant. Und es gibt ja so viele verschiedene österreichische Küchen: Zwischen Tirol oder Vorarlberg und der Steiermark etwa liegen Welten.

Welches österreichische Gericht essen Sie am liebsten?

(Petrini lacht.) Eine gut gemachte „cotoletta alla milanese“ (italienische Variante des Wiener Schnitzel). Wenn ich Österreicher wäre, würde ich dessen Vaterschaft zurückfordern. (Anm.: Die Italiener behaupten, die cotoletta sei Vorbild für das Wiener Schnitzel gewesen).

Was ist Ihr Lieblingsessen?

Pasta mit Tomaten.

Was fehlt nie in Ihrer Küche?

Ich versuche, meinen Kühlschrank möglichst leer zu halten. Kühlschränke sind Familiengräber: mit Petersiliensträuchern, die um Gnade bitten, schimmligen Konserven, Hasen aus Jurassic-Park-Zeiten. Was nie fehlen darf? Der gesunde Hausverstand.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2009)

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