Stefan Wiesner - Der mit dem Stahl kocht

(c) Michael Wissing
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Der Schweizer Stefan Wiesner verlängert die gängige Zutatenliste: Er verwendet Torf, rostige Nägel, Steine. Und wird nicht umsonst Küchenhexer genannt.

(c) Michael Wissing

Kann man derzeit in der Kochwelt überhaupt noch für Überraschungen sorgen? Leicht ist es nicht, angesichts einer gewissen thematischen Übersättigung zwischen Molekularhype und jüngster Regionalbesessenheit. Ausgetüftelte Schäumchen hatten wir, autochthone Schweinerassen haben wir. Ein bei uns wenig bekannter Schweizer Koch schafft es dennoch, dem Kanon eine gewisse neue Spielart hinzuzufügen: Stefan Wiesner aus Escholzmatt im Kanton Luzern. Er hebt sich deutlich ab. Als „völlig entfesselt“ bezeichnet ihn der Schweizer Gault Millau, in der aktuellen Ausgabe gab es abermals 17 Punkte und drei Hauben für das Restaurant „Rössli“. Unter Stefan Wiesners Zutaten: Ameisensäure, Stahl, Steine, Torf. Kein Wunder, dass man den Entlebucher in seiner Heimat auch als „Hexer in der Küche“ bezeichnet, als Alchemisten oder Küchen-Anthroposophen.

Grenzenüberschreitend. Unter Wiesners Vorbildern sind die Franzosen Michel Bras und Marc Veyrat, beide für ihre Hingabe zu regionalen Wildpflanzen bekannt. Für seine Art zu kochen berät sich Stefan Wiesner mit Parfumeur Jimmy Studer, mit Archäologen, mit Förstern. Foodhunter Simon Meyer besorgt ihm Dinge wie Birkenteer (der nach Rosen schmecken soll) oder Schilfsprossen, Wicca-Hexer Willie Haas, gebürtiger Wiener, inspiriert ihn ebenso wie sein „Baumberater“ Peter Friedli, der Wiesner auch über die Magie der verschiedenen Bäume aufklärt – Holz ist schließlich eine der Zutaten, die die Küche des Avantgardisten am entscheidendsten prägen. „Holz hat eine Veredelungsfunktion für Spirituosen, für Essig. Es ist auch für die Parfumerie wichtig. Warum nicht auch für die Küche?“ 25 Holzsorten kommen in der Küche des „Rössli“ zum Einsatz – nicht als Schneidbrett, sondern als Bröselhülle für Erdäpfelbällchen, als Geschmacksgeber in der Suppe. Ameisensäure sammelt er vorsichtig auf Ameisenhaufen und verwendet sie, um Fleisch mürbe zu machen. Während andere Köche Gerichte rein dekorativ auf Schieferplatten anrichten, nützt er Kieselsteine, um einem Fischfond einen mineralischen Touch zu verleihen.
Stefan Wiesner denkt grenzübergreifend, hat den stets suchenden Geist eines Entdeckers. Er setzt auch Zutaten ein, die zwar im Dunstkreis von Essen oder Trinken stehen, aber üblicherweise bloß als blutleere Beschreibungskonstanten für Weine oder Whisky fungieren: Wiesner kocht etwa einen Jus aus rhabarbergegerbtem Leder, Torf serviert er roh zu Schokolade und Preiselbeerbaiser.
Stammgäste im „Rössli“ sind es vermutlich gewöhnt, bei Nennung der Speisekarte erst einmal zu schlucken: Kuhfleischsuppe mit Steinen, Joghurt-Eisenrost-Eis, Stahl-Ton-Crunch. Letzteres ist ein Bestandteil der Schneesuppe, das Bild links zeigt sie aufgesplittet in ihre Hauptzutaten. Dieser sogenannte Mars-Gang baut auf Stahl auf und macht deutlich, welche – nicht immer wissenschaftlich fundierten – Disziplinen Stefan Wiesner miteinbezieht. Stahl wird in Tonerde eingelegt, und nasser Stahl riecht nach Pilzen, also werden Steinpilze, Enokipilze und Trüffelöl eingesetzt. Papaya steht für Winter, also für Stahl, daher Papayasaft-Chips. Im Merkur-Gang indes kommen aus bestimmten Gründen blassblaue Zutaten wie Schimmelkäse sowie Aluminium in Form von Dosensardinen zum Einsatz. Diesmal allerdings nur der Inhalt der Dosen. Es würde freilich nicht verwundern, wenn Stefan Wiesner auch das Metall mitkochte.

Buchtipp

Stefan Wiesner: Avantgardistische Naturküche. Fotos von Michael Wissing, Text von Andrin C. Willi. AT Verlag, 271 Seiten, 69,90 Euro.

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