Wo der Zentralfriedhof ganz still ist

(c) Clemens Fabry
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Eine einzige Kerze brennt mitten im Gestrüpp des alten jüdischen Teils, in dem alle Wege in die Vergangenheit führen. Nun soll er restauriert werden, hoffentlich mit Bedacht.

Zentralfriedhof. Tor eins. Drei luxuriöse freie Stunden an einem Nachmittag des späten Oktober. Der ist in diesem Moment so golden, wie es sich gehört. Die Nebel sind aufgestiegen, die Sonne spielt mit dem Herbstlaub. Mir war weder nach Kaffeehaus noch nach Einkaufsstraße. Auch nicht nach Park oder Museum. Mir fiel ein, was sie unlängst im Radio gesagt hatten: Die jüdischen Friedhöfe Wiens sollen restauriert werden. Die Stadt wird ihren Beitrag leisten. Sie hat Geld versprochen. Ich fahre zum Zentralfriedhof. Mir ist bang. Es ist verständlich, dass die Kultusgemeinde die Friedhöfe in einen würdigen Zustand versetzt sehen will. Doch wie wird das auf diesem riesigen Areal bewerkstelligt werden? Wird man sich darauf beschränken, Bäume zu fällen, Gras zu schneiden, Efeu von den uralten Grabsteinen zu entfernen? Wie wird der Friedhof nachher ausschauen?

Gleich hinter dem Tor sieht man Baustellencontainer unter sehr alten Bäumen. Solche, in denen Poliere und Ingenieure ihre Büros haben. Vielleicht fangen sie schon an, denke ich. Menschen eilen mit Kränzen und Blumen nach links, dorthin, wo die Kreuze sind. Allerheiligen steht bevor. Die Gräber müssen in Ordnung gebracht werden. Was sollen denn die Nachbarn sagen! Ich gehe nach rechts, dorthin, wo es still ist. Ich suche ein bestimmtes Grab. Eine Gruft, um genau zu sein. Es ist jedes Mal schwierig, dieses Grab zu finden.

Entlaubt, dürr, tot: Der Buchs

Der alte jüdische Teil des Zentralfriedhofs ist riesig und menschenleer. Viele alte Bäume, Steine, Vegetation. Überwucherte Nebenwege, überwachsene Gräber, Efeu, Brennnesseln, Schafgarben. Nur die Hauptwege sind gemäht. Es ist keiner mehr da, der die Nebenwege gehen könnte. Irgendetwas ist anders als in den vergangenen Jahren. Da fällt es mir auf: Die steinalten Buchshecken, die auch im Winter grün waren, sind alle tot. Keiner war da, den Buchsbaumzünsler in Zaum zu halten. Er hat alle Buchse aufgefressen. Die stehen da wie Mumien. Entlaubt, dürr, tot.

1879 hatte hier die erste Beisetzung stattgefunden, 1917 war das 260.000 Quadratmeter große Areal voll belegt. Damals erwarb die Kultusgemeinde ein weiteres Areal, den neuen jüdischen Friedhof bei Tor fünf. Zur NS-Zeit war der alte Teil hier der einzige „Park“, in dem sich Juden aufhalten durften. Auch heute wirkt der Friedhof wie ein gewaltiger, überwucherter Park. Zwischen den Gräbern stehen zwei Rehe im bauchtiefen Gras. Sie schrecken auf, springen ab. Nur ganz vereinzelt sind schmale Wege freigelegt, leiten durch den Dschungel und enden an einem wie verloren im Gestrüpp gelegenen, unerwartet gepflegten Grab.

Eine einzige Kerze brennt hier. Irgendjemand erinnert sich. Es ist wie in einem Irrgarten, einem riesigen Labyrinth, in dem alle Wege in die Vergangenheit führen. Wäre ich Geschichtsprofessorin, würde ich die Jugendlichen hierher bringen, die Inschriften lesen, sie nachdenken lassen. Rund hunderttausend Menschen sind hier bestattet, etwa 95Prozent von ihnen haben keinen einzigen Nachfahren mehr. Viele Stunden würde ich hier mit dem Nachwuchs von heute verbringen, mehrere davon hätten sie den Auftrag zu schweigen. Ich stelle mir vor, das könnte ihnen nicht schaden, egal, ob sie Christen, Moslems, Juden oder ohne Bekenntnis sind.

Sie müssten allerdings ein bisschen älter und klüger sein als ein bestimmter, mir bekannter Tunichtgut, der, lange bevor er moralische Qualitäten wie Respekt vor der Geschichte und vor den Toten an den Tag legte, mit seinem noch jüngeren Bruder aus dem Karner unter einer romanischen Kirche einen Totenschädel stahl. Den nahmen die beiden heimlich mit nach Hause. Nachdem sie ihn lange genug gedreht und gewendet und sich an ihrem Streich ergötzt hatten, wurde es Abend. Und es ward ihnen unheimlich, denn mit der Dämmerung wurde ihnen bewusst, dass sie im Begriff waren, die Nacht mit einem Totenkopf zu verbringen.

Die Kirche war zu weit weg, um den Schädel zurückzubringen, ein Mindestrespekt vor den Toten war ihnen wenigstens schon gegeben, also radelten sie zum nächstgelegenen Friedhof und legten das Denkgehäuse des Unbekannten auf einen Grabstein. Irgend jemand muss ihn später dort gefunden haben. Irgend jemand muss sich erschrocken die Frage gestellt haben, wie ein Totenkopf aus dem Grab auf das Grab gelangen konnte.

Bleiben die Bäume?

Das ist lange her und verjährt. Der alte jüdische Friedhof jedoch bleibt Mahnmal. Hoffentlich werden die zerbrochenen Gitter repariert, die umgeworfenen Grabsteine aufgerichtet, die Wege gelichtet. Hoffentlich bleiben die Bäume, hoffentlich wird er nicht zu Tode restauriert, indem einfach alles Grün abgeschnitten wird.

Hoffentlich finde ich auch nächstes Jahr die Gruft wieder, die ich immer suche. Hoffentlich liegen auch dann noch die Kieselsteine in Reih und Glied auf der steinernen Treppe.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2013)

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