Wo die großen Elefanten spazieren gehen

(c) Clemens Fabry
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Rechts sind Bäume, links sind Bäume und dazwischen Zwischenräume. Wie wir mit erneuerbaren und atomaren Energien umgehen, geht uns alle an. Umso ärgerlicher, wie die industriegesteuerte Elefantenherde der EU Bürgerrechte niedertrampelt.

Als in den späten Apriltagen des Jahres 1986 radioaktive Wolken von Tschernobyl aus über Europa zogen, hatte ich noch keinen Garten. Doch ich kannte viele Gärtner. Ich sah, wie sie ihre Gemüsebeete brachliegen ließen. Wie sie im Herbst dieses und der nächsten Jahre das Laub zusammenrechten und nicht auf ihre Komposthäufen türmten, sondern wie Sondermüll entsorgten. In den Wäldern blieben die Pilze ungesammelt. Von den Obstbäumen fielen Äpfel und Birnen ab und verrotteten im Gras, weil keiner sie aufklauben wollte. Den Kindern sagte man in diesem Sommer, dass sie die Kirschen besser nicht essen sollten, und dass es überhaupt ratsam sei, Sandkisten zu meiden und gar nicht so viel ins Freie zu gehen.

Das Gedächtnis sei die Schatzkammer und der Bewacher aller Dinge, sagte Marcus Tullius Cicero. Offenbar ist Umweltminister Andrä Rupprechter einer der wenigen aktiven Politiker, die mit einem funktionierenden Gedächtnis gesegnet sind. Denn wo wäre andernorts in den nadelgestreiften Reihen der europäischen Politik ein Aufschrei gegen die eben von der EU-Kommission genehmigte Subventionierung eines neu zu errichtenden britischen Atomkraftwerks mit Steuergeld zu hören? Derweilen nirgendwo. Rupprechter hingegen, der die Meinung vertritt, diese Entscheidung werfe Europa in dieenergie- und wettbewerbspolitische Steinzeit zurück, kündigte sofort eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof an.


Japan ist weit weg. Dabei gäbe es selbstverständlich auch zeitlich noch etwas näherliegende Denkanstöße, wie etwa die rostigen und folglich ärgerlicherweise lecken Fässer des deutschen Atommüllzwischenlagers Brunsbüttel oder den Super-GAU in Fukushima. Doch Japan ist weit weg und die Industrielobby Europas nah, des Menschen maßlose Überheblichkeit, die Natur überlisten zu wollen, allerorten. Die EU-Bosse gleichen einer wild gewordenen Elefantenherde, die alles, was dem Gewinn im Weg steht, niedertrampelt.

Es ist kein nostalgisch-dümmliches oder gar der konservativen Reaktion verpflichtetes Behaupten zu sagen, dass jene, die in irgendeiner Weise mit dem Erdboden und den daraus wachsenden Geschöpfen tagtäglich auf Du und Du stehen, möglicherweise einen etwas empfindlicheren Zugang zu Themen wie Atomkraft, Pestiziden oder Gentechnologie als viele andere haben, die nicht in der Erde wühlen oder fassungslos vor verreckten Bienenvölkern stehen. Das ist auch ganz in Ordnung so, es muss ja nicht jeder immer alles können und wissen.

Doch wir werden in Zeiten, in denen in Europa bereits mehr als 70 Prozent der Menschen in Städten leben, logischerweise immer weniger. Was bedeutet das für den Umweltschutz? Was bedeutet das für Kinder, die bis ins Erwachsenenalter nie eine Kuh auf der Weide gesehen haben? Welchen Bezug zur kreatürlichen Natur kann jemand entwickeln, der nie einen sonnengereiften Paradeiser geerntet hat, der, um es kurz zu sagen, keine Ahnung von all den elementaren Zusammenhängen hat, die uns alle aber tagtäglich ernähren und am Leben halten?

Es ist nur ein Aspekt im breit gefächerten Spektrum umweltpolitischer Anliegen, doch all jene, die in der Atomkraft immer noch die Lösung des sogenannten Energieproblems sehen, könnten beispielsweise einen Blick in den ganz ausgezeichneten, eben präsentierten „Faktencheck Energiewende“ werfen, welchselbigen der Klima- und Energiefonds gemeinsam mit dem Dachverband Erneuerbare Energie Österreich herausgegeben hat.


Massive Marktverzerrung. Energieexperte Georg Günsberg, der mit wenig anderem befasst ist, als die Fakten zum Thema aus den Mythen herauszupicken wie Aschenputtels Täubchen die Linsen aus der Asche, schreibt darin etwa zum Thema des geplanten und oben erwähnten britischen AKWs Hinkley Point: „Die geplanten Reaktoren (reine Baukosten 16,3 Milliarden Euro) sollen über 35 Jahre eine Mindestvergütung von mehr als zehn Cent pro Kilowattstunde sowie einen Inflationsausgleich erhalten.“ Fazit: „Diese Förderung ist deutlich höher als jede aktuelle Ökostromförderung, auch die fossilen Energieträger müssen derzeit die von ihnen verursachten Folgekosten nicht tragen.“ Dies, so Günsberg, führe „zu einer massiven Marktverzerrung zu Ungunsten der erneuerbaren Energieträger“.

All das kann man bedenken, während man das Herbstlaub zu Häufen türmt und zu den Komposthäufen trägt, wo es von Regenwürmern und Milliarden von Mikroorganismen zum besten Humus verwandeln wird. Aus ihm sprießen dann die Blumen, an denen sich die Bienen nähren, wenn wir sie denn nicht vorher schon umgebracht haben, wir dummen, gierigen Menschen.

Lexikon

Faktencheck Energiewende.
Fakten zur Energieversorgung der Zukunft liefert, inhaltlich und grafisch perfekt aufbereitet, eine gut lesbare Zusammenfassung, die man unter www.faktencheck-energiewende.at herunterladen kann.

David Attenborough.
Auch der britische Naturdokumentator weist immer wieder auf die Konsequenzen des Verlusts der Naturnähe durch die Urbanisierung hin. Nachzulesen etwa auf www.telegraph.co.uk.

Vorbild. Dänemark hat den wohl fortschrittlichsten Zugang zu erneuerbaren Energien weltweit und will bis 2050 unabhängig von fossilen Energieträgern sein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.10.2014)

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