Der Tag ist kurz, das Leben lang

Sonnwendstein in der Region Semmering
Sonnwendstein in der Region SemmeringImago
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Mein Privatweihnachten findet am 21. Dezember statt. Es ist der Tag, an dem die Sonne endlich umkehrt, die Tage wieder länger werden und das ganze Jahr noch vor uns liegt. Es ist der Anfang des Gärtners.

Es ist ein ganz und gar subjektives Empfinden und soll keinen auch nur im Geringsten darin beeinflussen, den 24. Dezember als würdig zu befinden, ihn mit Engelshaar und Kugelglanz zu begehen, mit Festbraten, roten Freudenbäckchen und allem, was sonst noch dazugehört. Doch mein Privatweihnachten und, wie ich weiß, das so manch anderer, braucht keine Zutat. Es findet ganz von allein und drei Tage früher statt, wenn die Sonne untergeht: Wintersonnenwende! Gefühlstechnisch ist das der beste, feierlichste und begrüßenswerteste Moment des Jahres.

Der 21. Dezember, egal, ob verschneit, nebelig kalt oder lau, ist das Alpha und Omega des Gärtners, der Anfang und das Ende. Es ist der Tag, an dem die Sonne umkehrt und wieder dem Sommer entgegenrollt. Der Augenblick, in dem die noch unverbrauchte Zeit des Wachsens und Gedeihens in einer Art hoffnungsvollen Konzentrats unsere Gemüter von innen zu wärmen beginnt, so wie die Spiegelung des Horizonts in einem winzigen Tautropfen Platz hat. Man muss nur aus der rechten Perspektive hineinschauen. Ah, sagt man am 21. Dezember beglückt und schließt die Augen, jetzt liegt alles vor uns, und noch kein Tag davon ist verschwendet.

Eine zartbittere Angelegenheit

Wer die Augen rechtzeitig, so gegen vier Uhr nachmittags, wieder öffnet, kann, von diesem Fleck der Welt aus, die Sonne hinter dem Sonnwendstein verschwinden sehen. Ein winziges Stück links vom Gipfel geht sie unter. Morgen schon reist sie wieder nach rechts, streichelt im Lauf der Monate manch anderen Berggipfel mit ihren abendroten Tatzen, findet sich schließlich in der Mitte des Gösing in einem exakten Winkel zur darunter liegenden Flatzer Wand ein und schneidet einen roten Scherenschnitt in den Fichtenwald des Gipfels. Und dort dreht sie wieder um.

Dieses Ereignis findet, wie wir alle wissen, am 21.Juni statt, und verglichen mit der Wintersonnenwende ist dieser Tag eher eine zartbittere als freudige Angelegenheit. Denn feiert man im Dezember das Gefühl, der Winter sei vorbei, so versucht man sich im Juni einzureden: Nein, der Sommer ist noch ganz unverbraucht, erst ein Stück des Weges ist gegangen, es steht das meiste noch bevor. Auch wenn jetzt – verdammt! – die Tage wieder kürzer werden.

Eine kleine Umfrage unter Gartenfexen hat ergeben, dass es den meisten von uns so geht im Juni. Auch weil vieles dessen, was in den Monaten davor verabsäumt wurde, ab nun in diesem Jahr nicht mehr aufzuholen ist. Wer jetzt noch keine Paradeiser gepflanzt hat, pflanzt keine mehr. Wer jetzt allein ist mit unverwirklichten Plänen, wird es lang bleiben und sich noch darüber ärgern, wenn die Blätter treiben.

Dichter und Philosophen pflegen das Leben des Menschen mit dem Lauf des Jahres zu vergleichen. Ein bisschen etwas mag da ja dran sein, und die Sommersonnenwende ist eben diese zartbittere Zeit der Lebensmitte, wenn klar wird, dass manches, was man sich vielleicht erträumte, sich in diesem schönen Leben nicht mehr ausgehen wird.

Die Sonne schert das alles freilich gar nicht, sie fährt unverdrossen ihre Bahn. Es liegt vielmehr an uns, auf sie zu achten und das Geschehen wertzuschätzen. Das Leben wird länger, wenn man die Schwalben beobachtet, wenn man bemerkt, wenn sie kommen, und ihnen ein paar gute Grüße mit auf den Weg schickt, wenn sie gehen.

Es gibt Leute, die gehen auf die 90 zu. Sie stehen mit der Sonne auf, gehen mit ihr schlafen. Dazwischen bestellen sie ihre Gärten, empfinden sich als Teil des Ganzen. Sie konnten das nicht immer so beschaulich halten, haben ihr Leben lang gerackert. Sie denken nicht daran, nur einen einzigen Tag zu verschwenden. Und wenn es dann der letzte war, dann soll es so gewesen sein.

„Bedenke überdies, dass jeder bloß die gegenwärtige Zeit – einen Augenblick – lebe, die übrigen Zeitabschnitte dagegen für ihn entweder schon durchlebt seien oder noch im Dunkeln liegen. Unbedeutend ist also, was jeder lebt, unbedeutend der Erdwinkel, wo er lebt, unbedeutend auch der ausgedehnteste Nachruhm. Denn er zieht sich durch eine Reihe gar schnell dahinsterbender Menschenkinder fort, welche nicht einmal sich selbst, geschweige denn einen längst Verstorbenen kennen.“ Marc Aurel.

Lexikon

Karel Čapek: „Und ich sage euch, keine Siegespalme, kein Baum der Erkenntnis, kein Ruhmeslorbeer ist schöner als dieser weiße, zarte Kelch am blassen Stängel, der im frostigen Wind schaukelt.“

Rabindranath Tagore: „Dumme rennen, Kluge warten, Weise gehen durch den Garten.“

Georgisches Sprichwort: „Die Nachtigall singt auf Dornen ebenso schön wie auf Rosen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.12.2014)

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