Aurikel: Kunsthistorische Blumenbetrachtungen

Primula auricula flowers
Primula auricula flowers (c) imago/Westend61 (imago stock&people)
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Wenn man in Zeiten verhüllter Nacktstatuen eine Pflanze, die man nur aus Gemälden und alten Büchern kannte, plötzlich vor sich sieht, kann sich ein Kreis schließen.

Als man jüngst in vorauseilender Unterwerfung die antiken Statuen Roms verhüllte, um die im Schatten marmorner Nacktheit geführten Geschäftsgespräche mit dem Staatsgast nicht zu gefährden, empfand ich schmerzlich Scham für Europa. Doch da man wenig mehr tun kann, als sein Unbehagen, ja eigentlich Entsetzen über diesen dümmlichen Akt der Selbstverleugnung zu äußern, floh ich zur Beruhigung des Gemüts in meinen Blumenmarkt des Vertrauens.

Dieses war eine gute Idee, denn inmitten fast ordinär farbenprächtiger Primelneuzüchtungen stand eine kleine Pflanze, die ich bisher lediglich auf alten Kunstwerken bewundert hatte: eine schwarz-gelb blühende Aurikel. Ein Prachtgeschöpf! Viele Jahre lang hing ein Ausdruck des wahrscheinlich besten Bildes dieser fast unwirklichen Schönheit über meinem Schreibtisch, doch begegnet war ich der Pflanze nie.

Besagter kolorierter Druck stammt aus dem 1807 erschienenen dritten Band der „New illustration of the sexual system of Carolus von Linnaeus“, und dieser wird von Fachleuten als eines der großartigsten aller botanischen Bücher bezeichnet. Der Brite Robert John Thornton (1768-1837), Arzt und Pflanzenliebhaber, hatte Künstler seiner Zeit aufgerufen, sich der pflanzlichen Sexualsysteme in Bild und Wort anzunehmen. Die Kosten dafür waren enorm, das Interesse des Publikums blieb aus, das opulente Werk wurde nicht vollendet, Thornton, Erbe eines stattlichen Vermögens, starb verarmt und erlebte die Wertschätzung des von ihm gestifteten Erbes botanischer Kunst nicht.


In Szene gesetzte Blüten. Die Bücher und Bildplatten sind heute fast nicht mehr zu kriegen, und wenn, dann sind sie nicht zu bezahlen. Nur ganz wenige Exemplare sind vollständig erhalten. Das Abbild der Aurikel stammt aus dem dritten Band, der „Temple of Flora“ heißt und der berühmteste ist. Die Blütenpflanzen sind auf diesen Drucken in Szene gesetzt wie sonst nur porträtierte Persönlichkeiten. Ungewohnt dunkel-mysteriöse Hintergründe reichen tief hinein in Landschaften, jeweils passend zur Heimat der im Vordergrund abgebildeten Blütenpflanze: Hinter der blauen ägyptischen Wasserlilie beschatten Palmen ein Minarett. Die amerikanische Schlüsselblume blüht über den Felsklippen eines dramatischen Meeres. Hinter den Tulpen erstreckt sich eine Deichlandschaft.


Alpenblume statt Tulpe. Die Aurikeln blühen, wie es sich für Alpenpflanzen gehört, am Fuße eines Gebirges. Tatsächlich entstanden die zweifärbigen Gartenaurikeln aus einer Kreuzung der gelben Alpen-Aurikel und der rosa blühenden, nur in den Kalkalpen beheimateten Behaarten Primel. Aus unerfindlichen Gründen kam Letztere in Tirol in zahlreichen, ganz unterschiedlichen Blütenfarben vor, und Züchter brachten dank dieses Genpools die wildesten Aurikel-Blüten hervor.

Die Alpenblume löste die Tulpe zu Beginn des 19. Jahrhunderts als teure Liebhaberpflanze ab. Doch nach dieser Hausse hat man die sensationelle Frühlingsblüherin offenbar weitgehend vergessen. Umso größer mein Entzücken, als ich erstmals einem lebendigen Exemplar gegenüberstand und selbstredend sofort heimholte. So gesehen hat die Verhüllung der Nackten in Rom meine Reise durch die Kunstgeschichte Europas bereichert und einen alten Kreis geschlossen.

Lexikon

Gartenaurikel. Es gibt hunderte Sorten dieser faszinierenden Pflanze, und alle sind prachtvoll. Sie sind nur sehr schwer aufzutreiben.

Standort. Die Aurikel will kargen, ungedüngten, kalkhaltigen Boden, der niemals zu nass sein darf, was im Winter zu oft der Fall ist und die Pflanzen umbringt.

Pflege. Aurikelliebhaber ziehen deshalb die Pflanze mit der Pfahlwurzel in tiefen Töpfen und stellen sie im Winter unter Dach. Frost tut ihnen nichts.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.01.2016)

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