Den Tag fangen

Die Paeonia rockii, eine besonders exquisite Vertreterin der Chinesischen Strauchpfingstrosen.
Die Paeonia rockii, eine besonders exquisite Vertreterin der Chinesischen Strauchpfingstrosen.Ute Woltron
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Mai. Nie wird den armen dummen Menschlein des Horaz kluger Spruch „Carpe diem“ deutlicher vor Augen geführt als jetzt. Die Tage werden bleiben. Wir hingegen, wir werden vergehen.

Mai. Herrlich. Die Natur explodiert, jeder Tag bringt neue Sensationen. Alles treibt aus, setzt Blüten an, zeigt dem täglichen Durchwandler des kleinen bunten Gartenreichs, wie die Zeit verfliegt. Wobei, was heißt verfliegt? Der Gärtner neigt in Sachen Zeit eher der Meinung zu, sie drehe sich im ewigen Kreis. Die Kirschen und die Ribiseln haben gerade erst geblüht – schon tragen sie ansehnliche Fruchtkügelchen in Grün, werden bald rot in die Erntekörbe wandern. Alljährlich ein Wunder mitanzuschauen, wie schnell das geht. Alljährlich eine überdeutliche Erinnerung daran, auf keinen Fall nur einen einzigen Tag kostbarer Lebenszeit zu verschwenden.

Der Garten verändert sich in diesen Wochen so rasend schnell. Nie wird den armen dummen Menschlein hienieden des Horaz kluger Spruch „Carpe diem“ deutlicher vor Augen geführt als jetzt. Die Tage werden bleiben. Wir hingegen, wir werden vergehen. Der Frühling dauert heuer beglückend lang. Es blieb stets eher kühl, war nie knallheiß zwischendurch – die richtigen Temperaturen für lang anhaltenden Blütenflor da draußen.

Apropos: Warum, fragt der Gast leicht empört, warum blühen hier die Sträucher alle so dicht und üppig und bei mir nicht? Ob ich über geheime Düngerrezepte verfüge? Weil sie immer wieder gestutzt und geschnitten und damit verjüngt werden, lautet die Antwort, und das unbedingt zur jeweils richtigen Zeit. Die Frühjahrsblüher kommen nach der Blüte unter die Schere. Die Sommerblüher erst im Herbst oder im Winter.

Zaghafter Umgang ist ein Fehler. Zu zaghafter Umgang mit Blütensträuchern ist wahrscheinlich einer der Hauptfehler frisch ins Fach gewechselter Gärtnerkollegen: Man freut sich so sehr, wenn die neu gepflanzten Sträucher wachsen, dass man keinen Dezimeter Ästchen davon missen möchte. Doch das ist genauso falsch wie das Nichtschneiden der Obstbäume. Schlagen Sie in Ihren klugen Büchern nach und holen Sie sich dort Rat für die jeweiligen Straucharten, und werden Sie im nächsten Frühling glücklich im Blütenrausch. Manche Sträucher, wie etwa die duftigen Spirea, müssen sogar ab und zu ganz radikal verjüngt werden, um buschig und reichblühend zu bleiben, und dass diese goldene Regel zu oft Missachtung erfährt, lässt sich an zu vielen Gärten ablesen.

Eine Strauchprinzessin hingegen, die nicht geschnitten wird, und die an Genügsamkeit kaum zu überbieten und trotzdem schlicht eine Sensation darstellt, ist die Strauchpfingstrose. Zur Erinnerung: Das ist jene, die verholzt und recht stattliche Größe erreicht. Eine solche bekam ich vor drei Jahren in Form eines winzigen Würzelchens mit zwei labbrig durstig dranhängenden Blättern von der hervorragenden Gertrude Sch. überreicht. Einen halben Nachmittag lang waren wir durch ihr bezauberndes, wildes und üppiges Gartenreich geschritten, und sie hatte im Vorübergehen die herrlichsten Ableger geerntet und in meine begehrlich entgegengestreckte Meuterwanne geworfen.

Zwischen all den Taglilien in aufregenden Sorten, den Mondviolen, ausgefallenen Lavendelsorten und anderen sonst nur schwer aufzutreibenden Preziosen befanden sich, wie erwähnt, auch mehrere kleine Pfingstrosen, aus Samen gesprossen. Wir hielten sie allesamt für Bauernpfingstrosen, also solche, die klein bleiben, im Herbst einziehen und im Frühjahr in stattlichen Rondeaus wieder austreiben. Auch die schmächtige kleine Wurzel mit den zwei Blättern hielt ich für eine solche. Da sie die mickrigste von allen war, bedachte ich sie mit dem schlechtesten Platz und pflanzte sie in der schattigen Kuhle zwischen drei japanischen Schlitzahornen. Deren dominante Persönlichkeit würde eine kleine Bauernpfingsrose in ihrer Mitte verkraften.

Ein exquisites hässliches Entlein. Wie sich jedoch gerade eben herausstellte, war eben dieses Exemplar zum einen eine Strauchpfingstrose und zum anderen gewissermaßen das hässliche Entlein unter den Geschenken. Tatsächlich handelt es sich um eine Paeonia rockii, eine besonders exquisite Vertreterin der Chinesischen Strauchpfingstrosen.

Die Blüten sind ein einziger Traum: Riesengroß, gut 25 Zentimeter im Durchmesser, schneeweiß mit dunkellila Basalflecken in der gelb gekrönten Mitte, sowie einem betörenden Duft. Der Plan, die Samen zu ernten, auszusäen, Geduld zu haben, die Zeit arbeiten zu lassen, steht natürlich, so wie die Gäste bereits Schlange stehen für Ableger. Ob die Schönheit sich mit anderen Pfingstrosen zusammengetan hat, ob die Sprösslinge der Mutter gleichen, das wird sich erst weisen, wenn sich die Zeit abermals im Kreis gedreht hat.

Paeonia rockii. Diese Strauch- oder Baumpaeonie stammt aus den bergigen Regionen der zentralchinesischen Provinz Gonsu. Eigentlich eine Wildform, ist sie jedoch auch in diversen Kreuzungen erhältlich, dann sind die Blüten gefärbt und gefüllt.

Joseph Rock. Der in Wien geborene Weltreisende, Entdecker und Botaniker (1884–1962), der nach Amerika emigrierte und in Honolulu starb, hat der Schönheit den Namen gegeben. Er gilt als einer der namhaftesten Forscher der Flora Chinas und Hawaiis.

Besonderheit. Die Strauchpfingstrose ist anspruchslos – bis auf eine Macke: Sie will, einmal eingewurzelt, nur sehr ungern Standort wechseln. Lieber genau überlegen, wo sie hinkommt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.05.2016)

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