Steinlotus aus dem Supermarkt

Sinucrassula yunnanensis heißt die Pflanze, die man oft an der Kassa findet.
Sinucrassula yunnanensis heißt die Pflanze, die man oft an der Kassa findet.(c) Ute Woltron
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Sinucrassula. Aus China stammt ein Gewächs, mit dem man nur Geduld haben muss, um reich belohnt zu werden: das Chinadickblatt. Ein hässlicher Name für eine mysteriöse Pflanze.

Die Schleuse kurz vor der Supermarktkassa ist die letzte Bastion der Verführung der Kundschaft, und dementsprechend türmt sich hier der Kram links und rechts noch einmal möglichst hoch. Kaugummis und Schokoriegel, Schnapsfläschchen, Schaumrollen im Sonderangebot, Plastikspielzeug, Limonaden. Sie kennen das.

Gelegentlich zieht etwas inmitten dieses zeitgenössischen Konsumidylls den Blick auf sich, was im synthetischen Gleichklang so rührend deplatziert wirkt, dass es heraussticht: lebendige Kreaturen in Form von Pflanzen. Gemeint sind nicht die üblichen Orchideen und Zimmerfarne, die gern auf Tischen weiter hinter der Kassa stehen. Die Rede ist vielmehr von pflanzlichen Miniaturen, die hin und wieder noch vor dem Warentransportband in der prominenteren Zone der Krapfen-Sonderangebote landen. Ihr Anblick hat etwas von tiefer Einsamkeit und kann einem das Herz brechen.

Mit Lackbesprüht. Meist handelt es sich um Angehörige der zähen Familie der Dickblattgewächse. Denn ihnen kann man viel antun, und sie schauen immer noch gut aus. Auch wochenlanges Dursten sieht man ihnen nicht an. Mitunter sind sie mit Lack übersprüht, als ob sie von Natur aus ganz irre Farben trügen. Häufig setzt man ihnen je nach Saison mit absurd kitschigen Verzierungen zu, sodass sie wirken wie von Natur aus schöne Kinder, die mit zu viel Schminke zu kleinen Schönheitsköniginnen verschandelt werden. Oft stecken ihre Töpfe in hübschen Übertöpfchen, die sinnlos, weil viel zu klein sind.

Einige meiner seltsamsten Pflanzen verdanke ich solchen Momenten des Mitleids mit gequälten Miniaturen. Oft wachsen sie sich zu den interessantesten Gewächsen aus. Eines von ihnen wird demnächst blühen, und das erfüllt mich mit freudiger Aufregung. Denn allein schon die Art und Weise, wie sich diese Blüte ankündigt, ist außergewöhnlich. Zudem soll die Blume eben dieser Pflanze eine ganz besonders schöne sein.

Ich fand das Gewächs vor etwa zwei Jahren in einem Supermarkt vor der Kassa, wo es im Angebot stand wie Lutschbonbons oder Einwegrasierer für Damenbeine. Wahrscheinlich stammte die Pflanze aus einer dieser gewaltigen Gärtnereien, wo man heutzutage Setzlinge zu Hunderttausenden am Fließband vermehrt. Sie steckte jedenfalls in einem Topf, dessen Durchmesser nicht einmal fünf Zentimeter betrug und sah aus wie ein winziger Igel. Die ganze Pflanze bestand aus einer einzigen kugeligen Rosette, gebildet aus fleischigen Sukkulenten und fast schwarzen Blättern. Wunderschön.

Als ich sie aus der Gefahrenzone hinausmanövriert hatte und in Sicherheit gebracht glaubte, topfte ich sie sofort um. Dabei zerbröselte mir die winzige Schönheit unerwartet fast ganz unter den Fingern, und die kompakt wirkende Rosette verlor viele ihrer stacheligen Walzenblättchen. Übrig blieben ein paar sperrige Haufen, die ich jeweils in Bonsaischalen pflanzte. Was für eine Niederlage für alle Beteiligten.

Doch nur Geduld. Nicht durch Aufschlagen, sondern durch Ausbrüten wird aus dem Ei ein Küken, sagt man in China, und von dort stammte das Gewächs auch, wie ich schließlich durch einige Recherche in Erfahrung bringen konnte. Es handelte sich um eine Sinucrassula yunnanensis, ein Yunnan-Chinadickblatt. Was für ein hässlicher Name für eine so mysteriöse kleine Pflanze. Chinadickblatt, das klingt nach gutbürgerlichem Haushalt samt Abstauben am Samstagnachmittag und nach Blattglanzpolitur. Doch irgendwo fand ich auch den echten chinesischen Namen. Den entzifferten mir dankenswerterweise die beiden des Chinesischen Kundigen Suhsi und Jürgen K., und plötzlich bekam das kleine Gewächs von der Supermarktkasse eine weitere Aura des Mysteriös-Schönen. Denn die wortwörtliche Übersetzung der chinesischen Bezeichnung dieser Pflanze lautet: Steinlotus aus der Provinz südlich der Wolken. Schöner geht's eigentlich gar nicht mehr.

Wenn Sie jemals in die Verlegenheit kommen, einen Steinlotus aus der Provinz südlich der Wolken umtopfen zu müssen, verzweifeln Sie nicht. Er wird ziemlich ramponiert aus der Prozedur hervorgehen, doch jedes Teilchen wird wieder anwachsen, wird wieder zur Rosette werden und weitere Rosetten werden rundherum folgen.

Und wenn Sie Glück haben, wird plötzlich ein besonders dickes Blatt auftauchen und über Wochen hinweg anschwellen, denn tatsächlich ist es die Knospe besagter sagenumwitterter Blüte, auf die ich nun freudig erregt warte. So kann es also gehen an der Supermarktkassa. Steinlotus oder Damenbeinrasierer, das ist hier, nicht oft, aber mitunter, die Frage.

Sinucrassula yunnanensis. Crassulaceae sind die Dickblattgewächse, sinensis steht für chinesisch, yunnanensis natürlich für die Provinz Yunnan, und das ist diejenige südlich der Wolken.

Genügsamkeit. Als Dickblattgewächs ist die Pflanze genügsam und darf niemals zu viel gegossen werden, im Gegenteil, sie trocknet zwischendurch gern aus. In ihrem natürlichen Habitat wächst sie in Felsspalten.

Helligkeit. Aber hell will sie es haben, die Kleine. Im Sommer steht sie im Freien, durchaus in der Sonne, im Winter im Zimmer, und sie braucht auch hier sehr viel Licht, sonst wird sie lang und dünn und durchsichtig.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2016)

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