Die blauen Stunden

Blaue Stunde: Lohn für frühes Aufstehen.
Blaue Stunde: Lohn für frühes Aufstehen.(c) Ute Woltron
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Frühaufsteher. Viele Gärtner sollen Frühaufsteher sein, was statistisch zwar nicht erwiesen ist, aber seine Vorteile hat, wenn man die drei Phasen der Dämmerung genauer studieren will.

Folgende wahrscheinlich wahre Geschichte trug sich an einem Herbsttag im Jahr 1957 zu. Der damals hochbetagte finnische Komponist Jean Sibelius war, wie jeden frühen Morgen, zu einem Spaziergang aufgebrochen. Er lebte mit seiner Frau zurückgezogen auf einem recht abgelegenen Anwesen am Ufer eines Sees. Das Grundstück war wild, unberührt und mit 4,2 Hektar riesengroß.

Sibelius war zu diesem Zeitpunkt 91 Jahre alt und fast blind. So konnte er seine geliebten Wildvögel, die zeit seines Lebens eine so wichtige Rolle gespielt hatten, kaum mehr sehen. Doch er hörte sie. Er hörte die Wildgänse auf ihrem Zug, er lauschte ihrem Flügelrauschen, ihren Rufen, und er hörte natürlich auch die Kraniche im Frühling an-, und im Herbst wieder abreisen.

An besagtem Morgen kam der alte Mann erregt von seinem Spaziergang zurück und berichtete seiner Frau, ein Zug von Kranichen sei so niedrig über ihn hinweggeflogen, dass selbst seine schwachen Augen die Vögel hätten ausmachen können. Einer von ihnen habe sich aus der Gruppe gelöst, sei tief über ihm zurückgeflogen und einmal über dem Haus gekreist. Er habe danach die anderen wieder eingeholt, und der Kranichzug sei ruhig Richtung Süden weitergeflogen.

„Ich habe den Vogel meiner Jugend gesehen“, soll Sibelius zu seiner Frau gesagt haben. Zwei Tage danach starb er auf seinem Anwesen. Dieses ist, nach seiner Frau Ainola benannt, in unverändertem Zustand heute ein Museum. Der Garten dürfte nicht mehr ganz so unberührt sein wie damals, doch das ist hier gar nicht das Thema.

Drei Phasen. Es geht vielmehr um das ganz frühe Aufstehen zu einer Zeit, in der die Welt nur den Wenigen zu gehören scheint, die schon wach sind. Im Fall des Komponisten nur die Vögel. Wirklich extreme Frühaufsteher können sich selbst hierzulande noch dem herrlichen illusionistischen Gefühl hingeben, allein zu sein, und natürlich sind Gärten und Parks, Wälder und wilde Fluren die idealen Beobachtungsposten für alles, was in den blauen Stunden der Dämmerung passiert.

Halt, werden nun die literarisch Gebildeten schreien und einwenden, der Begriff blaue Stunde gelte nur für die Abenddämmerung. Doch ob der Tag kommt oder ob er geht, macht letztlich wenig Unterschied für die Bläue. Außerdem haben Astronomie und Nautik sowohl Morgen- als auch Abenddämmerung in drei Phasen gegliedert, die täglich vor unseren ignoranten Augen auf- und abrollen, ohne groß beachtet zu werden, es sei denn, es ergeben sich spektakuläre Wolkenkonstellationen, die man fotografieren und den sozialen Medien preisgeben kann.

Für den früh aufstehenden Gartenmenschen beginnt die erste, die sogenannte astronomische Dämmerung, als Ahnung eines sich in die Schwärze der Nacht mischenden dunklen Blaus. Die Sonne steht in einem Tiefenwinkel von 18 Grad unter dem Horizont. Wenn sie zwölf Grad erreicht hat, der Horizont erkennbar ist und noch Sterne sichtbar sind, geht die astronomische in die nautische Dämmerung über, die ihre Bezeichnung noch aus der Zeit der Seefahrer zieht, als man sich nach den Sternen orientierte. Ab sechs Grad folgt die bürgerliche Dämmerung, bis die Sonne schließlich aufgeht und der Zauber in den Tag übergeht.

Angeblich befinden sich unter uns Gärtnern viele Frühaufsteher, was allerdings, soweit ich weiß, keinesfalls bewiesen und möglicherweise eine Legende ist. Dennoch scheint frühes Herumkramen in der Stille schon während der astronomischen Dämmerung eine beliebte Beschäftigung zu sein. Egal, zu welcher Jahreszeit: Niemand stört. Das ist das Beste daran. Im Sommer ist es außerdem noch kühl zu dieser Zeit. Und immer beherrscht ein untertags niemals in dieser Intensität zu beobachtendes Wildleben die Szenerie.


Tiere, nah wie nie. Im Lauf meiner Frühaufstehergeschichte konnte ich beobachten: Füchse und Dachse in Wiener Vorgärten. Wildschweine samt Frischlingen in Parks. Waldkäuze und Uhus. Marder, so scheu sie auch sein mögen, fast in Streichelnähe. Sperber, die zwei Meter neben mir Amseln im Flug erbeuteten und seelenruhig zerlegten, was allerdings auch am helllichten Tag hätte passieren können. An einem Schleimfaden herabhängende und sich in akrobatischen Verschraubungen paarende Egelschnecken. Natürlich zahllose Rehe, Böcke, Feldhasen und andere Tiere der Felder und Wälder in zutraulicher Nähe.

Der Zauber des frühen Morgens verfliegt mit dem Sonnenaufgang. Mit dem Tag beginnt das Lärmende. Auch gut. Aber lauter wird es jetzt. Notfalls legt man dann Sibelius auf. Die „Szene mit Kranichen“ beispielsweise.

Blaue Stunde. Wenn die Lichtstrahlen sehr schräg einfallen und einen längeren Weg durch die Atmosphäre zurücklegen, passieren insbesondere in der Ozonschicht komplizierte Streu- und Filtereffekte, für deren Erklärung der Platz hier nicht ausreicht, die jedoch für die sattblaue und spezielle Blaufärbung verantwortlich sind.

Dauer. Je nach Breitengrad dauert die blaue Stunde zwischen 20 Minuten am Äquator und bis zu fünf Stunden in den weißen Nächten ab 57° nördlicher und südlicher Breite.

Literatur. Die blaue Stunde wurde unter anderem von Autorinnen und Autoren wie Joan Didion, Oskar Loerke und Ingeborg Bachmann in Gedichten und Romanen gewürdigt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.11.2016)

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