Ein Plädoyer für das Wilde

(c) imago/Peter Widmann
  • Drucken

Wer weiß, dass etwa eine Meisenfamilie an die 150.000 Raupen pro Saison vertilgt, wird gern noch mehr Raupen- und Schmetterlingspflanzen in den Garten holen und die ekelhafte Thujenhecke auf dem Altar der Biodiversität opfern.

Neulich saßen an ein und demselben Tisch ein Lepidopterologe und ein Ornithologe beisammen. Schau an, könnte ein unbedarfter Zuschauer denken, Tierschützer unter sich. Ein Schmetterlingsforscher und ein Vogelkundler auf engstem Raum – wie oft kommt man als Laie zu einem solchen Vergnügen? Auch die Gastgeber waren eine Besonderheit. Man befand sich am Fuß des Hundsheimer Berges in der Nähe von Hainburg, und damit, wie uns mittlerweile Älteren noch gut erinnerlich ist, in der Nähe des wichtigsten Kristallisationspunkts der heimischen Grünbewegung. Wer vor 32 Jahren dabei war, als die Hainburger Au besetzt wurde, bereist diese Gegend niemals, ohne an die eiskalten und doch herzerwärmenden Tage im Dezember 1984 zu denken.

Heute befindet sich, wo ein Donaukraftwerk hätte stehen sollen, ein Nationalpark. Der Anblick dieser herrlichen Au mit ihren Haupt- und Nebenläufen, mit versunkenen Baumstämmen, der Reiherkolonie, mit all den Kröten, Fröschen und anderem Getier lässt jedes Mal ein warmes Gefühl ums Herz aufkommen, sowie die Erinnerung daran, dass viele Leute mit starkem Willen und Einsatzbereitschaft doch das eine oder andere bewegen und ändern können. Wenn sie wollen.

Diesmal saßen wir, wie gesagt, ein paar Kilometer weiter am Rand eines auf den ersten Blick weniger spektakulären, jedoch ebenso aufregenden Biotops. Denn was kaum jemand weiß: Die Region rund um den Hundsheimer Berg beherbergt äußerst selten gewordene, kostbare Trocken- und Halbtrockenrasenflächen, die teilweise unter Naturschutz stehen und durch traditionelle Weidewirtschaft erhalten werden.


Eine Mühe, die sich lohnt. Die Gastgeber, die Familie Zillner, bewirtschaften etwa 60 Hektar davon seit Jahrzehnten mit Ziegen und Schafen. Die Weidetiere bekommen täglich ein neues Areal abgesteckt, um sich an den Kräutern, Gräsern und am Buschwerk gütlich zu tun. Das ist sehr aufwendig, hilft jedoch, das Gleichgewicht und somit dieses seltene Biotop zu erhalten, in dem beispielsweise eine sehr seltene Nelkenart gedeiht, die es sonst in Österreich nirgends gibt, und wo etwa 1200 Schmetterlingsarten nachgewiesen sind.

Einer davon, ein Tagpfauenauge, war eben in einem Raum des Hofes aufgefunden, unter einen Glassturz gesteckt und mitten auf den Tisch gestellt worden. Wir betrachteten ihn wohlwollend. Er war von den vergangenen Wochen zwar gezeichnet und etwas zerzaust, würde sich aber später einen kühlen, feuchten Ort suchen, um zu überwintern. Im Frühling würde er ausfliegen, eine große Brennnesselkolonie suchen, seine Eier ablegen und so für die nächste Schmetterlingsgeneration sorgen. Der Lepidopterologe ergriff ihn beherzt in einem Moment, da der Falter die Flügel zusammengeklappt hatte, was zu einem allgemeinen Aufschrei führte. Doch er erklärte, dass der Schmetterling nur dann von einem solchen Zupacken Schaden nähme, würde man die luftgefüllten Adern seiner Flügel beschädigen. Der Ornithologe hingegen meinte süffisant, den Falter hinauszubringen wäre eine ausgezeichnete Idee, sei der doch ein wunderbarer Happen für einen seiner Vögel.

In diesem Moment dämmerte der Gedanke herauf, dass die beiden möglicherweise doch nicht immer in vollkommener Harmonie koexistierten, und der Gegenschlag des Lepidopterologen folgte auch in der Sekunde: Ein einziges Meisenpärchen schnabuliert samt seiner Nachkommenschaft innerhalb eines Jahres insgesamt an die 75 Kilo Insekten, darunter etwa 150.000 Raupen. Sagenhaft! So ein kleiner Vogel braucht, gemessen an seinem Gewicht, an die zehnmal so viel Nahrung wie ein Mensch. Er muss seine hohe Körpertemperatur halten, auch das Fliegen braucht jede Menge Energie.

Es gäbe tatsächlich Schmetterlingsfreaks, so meinten beide übereinstimmend, die Vögel deshalb am liebsten aus ihren Gärten verbannen würden, was natürlich völliger Unsinn sei. Die beste Methode, allen Gutes zu tun, besteht natürlich darin, allen das zur Verfügung zu stellen, was sie so dringend brauchen, und was ebenfalls immer seltener wird: ein paar wilde, ungekämmte Zonen mit vielen Stauden und Gehölzen, die sowohl Faltern als auch Vögeln Nahrung spendieren.


Schneidet endlich die Thujen um! Deshalb wieder einmal der Aufruf: Schneidet eure leblosen Thujenhecken um, an denen sich weder Schmetterling noch Vogel laben können. Ersetzt sie durch Bäume und Sträucher, die Nahrungsgrundlage für das Federvieh sind.

Ein paar Beispiele: An der Eberesche naschen gleich 63 Vogelarten, am Holunder 62, an der Vogelkirsche 48, am Weißdorn 32. Hoch im Kurs als Jausenstation stehen etwa auch Birken, Heidewacholder, Zwetschke, Faulbaum, Him- und Brombeere, Eibe und diverse Schneebälle, Felsenbirne und viele mehr. ?

Lexikon

Biodiversität. Jeder, der ein Stück Boden bewirtschaftet, kann Vielfalt unterstützen, eine bunte Mischung von Pflanzen beherbergen, den Säuberlichkeitsdrang überwinden und Futter in Form von Samenständen erst im Frühling zurückschneiden.

Thujen. In Deutschland gibt es mittlerweile Gemeinden, die das Pflanzen von Thujenhecken aus Naturschutzgründen, aber auch aus ästhetischen Beweggründen laut Bebauungsplan verbieten.

Heimische Gehölze. Sie nützen natürlich nicht nur den Vögeln, sondern auch zahllosen Schmetterlings- und Insektenarten als Wirtspflanze und Rückzugsort. Je mehr davon, desto besser.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.11.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Garten

Indisches Duften

Nicht nur für Currys eignet sich der Grüne Kardamom mit seinen herrlich aromatischen Blättern.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.