Gartenkralle

Die Läuse in des Kaisers Bart

Die Gottesanbeterin ist das Insekt des Jahres.
Die Gottesanbeterin ist das Insekt des Jahres.(c) Ute Woltron
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Insektensterben. Die Insektenwelt ist in Bedrängnis, und das betrifft nicht nur die restliche Tierwelt, sondern irgendwann auch uns, die wir dafür verantwortlich sind.

Verschiedene Studien zu unterschiedlichen Themen erregten in den vergangenen Wochen die Gemüter, wobei selbstverständlich alle sofort durch die Mühlen der Parteipolitik gejagt und dort zermahlen wurden. Denn mit Worten, so meinte auch schon Johann Wolfgang von Goethe, lässt sich trefflich streiten, mit Worten ein System bereiten, an Worte lässt sich trefflich glauben, von einem Wort lässt sich kein Jota rauben. Deshalb gibt es stets auch Gegenstudien, weil es meistens weniger um die Sachlage als um das Rechtbehalten geht.

Eine dieser kolportierten Untersuchungen befasste sich mit Insekten, genauer gesagt mit deren Verschwinden. Das deutsche Umweltministerium, so stand eben vielerorts zu lesen, warne vor einem fortschreitenden Insektensterben. Innerhalb der vergangenen Jahrzehnte habe sich der Bestand in manchen Gegenden um bis zu 80 Prozent verringert, einige Arten seien akut vom Aussterben bedroht. Letzteres wissen wir, erstere Zahl ist erheblich und beängstigend.

Sogleich erfolgte der Aufschrei, die Insekten würden nun von Kommunikationsprofis der Grünen in Zeiten des Wahlkampfes missbraucht. Die Studie sei uralt, nicht repräsentativ und würde lediglich hervorgekramt, um auf Stimmenfang zu gehen. Die deutsche Umweltministerin Barbara Hendricks gehe den Unruhestiftern nachgerade auf den Leim, wenn sie bemerke: „Wer heute mit dem Auto übers Land fährt, findet danach kaum noch Insekten auf der Windschutzscheibe.“

Nur ist es, Wahlkampf hin, Parteipolitik her, so: Wer heute mit dem Auto über das Land fährt, findet danach kaum noch Insekten auf der Windschutzscheibe. Punkt. Das ist ein Fakt. Wer sich an die minkerlverklebten Scheiben von früher erinnert, wird das mit Sicherheit bestätigen. Was hier als scheinbare Wahlkampfstrategie so locker abgetan wird, wird von zahlreichen unpolitischen wissenschaftlichen Studien seit vielen Jahren immer wieder bestätigt. Wir verlieren ganze Ökosysteme, weil wir zu dumm sind, um zu erkennen, dass sie unendlich viel wichtiger als die ewige Politrangelei um die Läuse in des Kaisers Bart sind.

Doch wer interessiert sich schon für das Elend der Gefleckten Heidelibelle, der Alpen-Schilfspornzikade oder des Teich-Zwergtümpelkäfers? Wen schert die Misere der Gewöhnlichen Skorpionsfliege, der Untergang des Gelben Grashüpfers oder das Aussterben der Pannonischen Strandschrecke? All diese Tiere und viele weitere sind auf der Roten Liste mit dem Zusatz CR versehen, der bedeutet, dass ein „extrem hohes Risiko des Aussterbens in der Natur in unmittelbarer Zukunft“ besteht.

Also, Parteigänger aller Farben, reißt euch lieber zusammen und verwendet eure Kampfeskraft für sinnvollere Anliegen. Die braven Bienen, deren Honig uns schmeckt und die wir für die Bestäubung unserer Jausenäpfel benötigen, sowie die schönen Schmetterlinge, die nur noch vereinzelt gaukeln, mögen die sympathischen Aushängeinsekten sein, für die sich umweltbewusste Leute dankenswerterweise zunehmend starkmachen.

Doch sie sind nur ein winziger Teil einer Fauna, die unter der offenbar wahnsinnig gewordenen Kreatur Mensch leidet. Pestizide, Landraub, sorgloser Umgang mit Freiflächen, Monokulturen und dergleichen mehr bringen die Insektenwelt arg in Bedrängnis, und, wie Wissenschaftler nimmermüde vorbeten: Sie werden auch den Menschen in ein Dilemma stürzen, wenn Bestäuberinsekten aussterben, und das betrifft nicht nur die Biene. Die Antwort auf die Frage, wer sich für das Elend der Gefleckten Heidelibelle und anderer Insekten interessiert, liegt auf der Hand: alle anderen Tiere, für die sie einen Teil der Nahrung darstellen, Wassertiere und Vögel etwa.

So wie die Pflanze, den Vogel oder den Fisch des Jahres gibt es natürlich auch das Insekt des Jahres. Das ist heuer übrigens die Gottesanbeterin, und zwar die europäische Vertreterin der weltweit etwa 2500 Arten von Fangschrecken. Aufgrund der Klimaerwärmung, über deren Ursachen es bekanntlich ebenfalls unendlich viele Studien und Gegenstudien gibt, schreitet die Ausbreitung des wärmeliebenden Insekts seit Ende des 20. Jahrhunderts Richtung Norden voran.

In den milden Gegenden Österreichs ist sie bereits seit Langem heimisch. Sie lebt in trockenen Gras- und Buschlandschaften, und die ersten erwachsenen Tiere tauchen nun nach mehrfacher Häutung in den späten Juliwochen auf. Die Weibchen sind mit fast acht Zentimeter Körperlänge ziemlich stattlich. Manchmal fressen sie die kleineren Männchen nach der Begattung auf. Da kann auch der Umweltschutz nichts dagegen machen.

Lexikon

Rote Listen. Wer sich der Mühe unterziehen und einen Blick in den Abgrund tun will, kann die langen Listen gefährdeter Tiere nach Sparten via Umweltbundesamt runterladen. www.umweltbundesamt.at

Gottesanbeterin. Die europäische Art heißt Mantis religiosa und ist die einzige Fangschrecke, die hierzulande vorkommt. Sie stammt ursprünglich aus Afrika, verbreitet sich jedoch seit Langem auch in Europa.

Insektenkundler. Die Lehre von den Insekten heißt Entomologie. Infos zur österreichischen Entomologischen Gesellschaft sowie viele Links zu Entomologenvereinen und dergleichen findet man unter www.entomologie.org.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.07.2017)

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