Nerinen: Fabelwesen aus dem Meer

Nerinen blühen spät, dafür umso prächtiger.
Nerinen blühen spät, dafür umso prächtiger.(c) Ute Woltron
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Mitunter tauchen Pflanzen im Garten auf, deren Herkunft dunkel, deren Namen unbekannt sind, doch irgendwie lösen sich derlei Rätsel so gut wie immer irgendwann einmal wohlgefällig auf.

In einem der zahllosen Blumentöpfe der Nachbarin tauchten in der Kälte des Herbstes plötzlich und ganz unerwartet rosarote Fabelwesen auf – zierliche Gestalten auf gut 40 Zentimeter hohen Stängeln, die aussahen, als hätte eine Fee rosa Seidenbänder zu verspielten Schleifen gebunden. Die in Sachen Botanik selten ratlose Nachbarin stand vor einem Rätsel, denn weder wusste sie, worum es sich bei dieser spektakulären Erscheinung der ausklingenden Saison handelte, noch konnte sie sagen, wie sie in ihren Garten geraten war.

Dazu muss angemerkt werden, dass sich besagter Topfgarten in einem sonnigen Hof befindet und im Sommer einer Art Zaubergärtchen gleicht. Im Winter herrscht Leere im Hof, bis auf den Japanischen Schlitzahorn, der seinen Topf gesprengt, seine Wurzeln mittlerweile im Erdreich versenkt hat und seit Jahren schon unverrückbar die Stellung hält.

Doch ab dem Frühling wird es hier dicht. Die Nachbarin schleppt in den ersten warmen Tagen ihre überwinterten Kostbarkeiten wie eine Haselmaus ins Freie, schichtet sie in allerlei Etageren und Emporen zu den später im Jahr so stimmigen Arrangements empor und bestückt die Blumenoase laufend mit weiteren exquisiten Topfgeschöpfen, die nicht selten mit allerlei Tipps und Geschichten von anderen Gartenhexen überreicht werden.

Der Nachbar, eher dem Handfesten in Form von Kartoffeln, Salaten und Paradeisern zugetan, beäugt das Paradiesgärtlein zwar wohlwollend, steht jedoch nicht hintan regelmäßig zu bemerken, dass hier bald kein Durchkommen mehr sei wegen all der Gewächse.


Griechische Meernymphen. Als es nun zum Abräumen und Einwintern kam, hatte die Nachbarin eigentlich bereits beschlossen, einen bestimmten Topf samt enttäuschendem Inhalt unbekannter Provenienz dem Komposthaufen zu überantworten: Lange, schmale Blätter befanden sich darin, aber niemals war über die Saison so etwas wie eine mickrige Blüte aufgetaucht.

Doch zeitgleich mit den ersten Herbstnebeln schossen gerade noch rechtzeitig vor der Kompostierung aus dem Blattwerk eilig die schlanken Stiele empor. Die rosa Blüten, die entfernt an den Blütenflor des Agapanthus erinnerten, öffneten sich der Reihe nach und gaben das Rätsel auf. Woher kam diese Pflanze, wer hatte sie gebracht und worum handelte es sich überhaupt?

Zum Glück sind echte Gartenaficionados immer neugierig, und sie kümmern sich deshalb oftmals auch aus der Ferne um das Wohlergehen ihrer Ableger. So auch die 94-jährige Gärtnerin. „Wie geht es eigentlich meinen Nerinen?“, fragte sie nebenbei beim Kaffeeklatsch, und löste damit erfreulicherweise das Rätsel auf. Vergangenen Herbst hatte sie der Nachbarin ein paar Zwiebeln mitgegeben, die hatte sie eingepflanzt und im Meer ihrer Töpfe den Überblick verloren.

Apropos: Das Meer und seine Fabelwesen spielen eine wichtige Rolle in der Kulturgeschichte dieser außergewöhnlichen, ursprünglich in Südafrika beheimateten Pflanze. Denn die Nerinen sind nach den griechischen Meernymphen, den Nereiden benannt. Die 50 Meerestöchter leben am Grunde des Ozeans, sausen gern auf den Rücken von Delfinen reitend durch die Wellen und beschützen Schiffbrüchige und Seeleute.

Die Geschichtsschreibung will es, dass im 17. Jahrhundert ein Frachtschiff auf dem Weg nach Holland an den Gestaden der Guernsey Inseln zerschellte und sank. Mit an Bord waren Zwiebeln eben jener Lilien. Die Wellen – oder vielleicht auch die Nereiden – trugen sie an den Strand, wo sie Wurzeln schlugen und übers Jahr zu blühen begannen.

Ob sich diese fabelhafte Geschichte tatsächlich so zugetragen hat, darüber streiten Botaniker noch heute. Tatsächlich wurden die Nerinen jedoch zur Nationalblume der Kanalinsel und sind auch unter dem Namen Guernseylilien bekannt. Der Name täuscht jedoch. Die Pflanzen sind botanisch den Amaryllisgewächsen zuzuordnen, von denen es rund zwei Dutzend Arten in Südafrika gibt.

Die in Guernsey sowie im nachbarlichen Topfgarten heimisch gewordene Art heißt Nerine bowdenii und ist ihrerseits in mehreren Sorten zu haben. Liebhaber dieser Pflanzen neigen zu exzessivem Sammeln, was insofern erleichtert wird, als die Zwiebeln bis zu minus 15 Grad winterhart sind. Die Nerinen können also in klimatisch begünstigten Regionen getrost ausgepflanzt werden. Sie blühen spät, wenn andere Blütenpflanzen längst vergilbt sind, was sie umso attraktiver macht, natürlich auch für Topfgärtner.

In kalten Gegenden überwintert man sie kühl und trocken. Sie ziehen übrigens sandiges, nicht zu fruchtbares Substrat, viel Sonne, niemals zu viel Gießwasser und sparsame Düngergaben vor, die fabelhaften Herbstschönheiten aus dem Meer. 

Lexikon

Guernseylilie.
Erstaunlicherweise kaum bekannt, doch als Spätblüherin im Herbstgarten eine echte Attraktion ist die Nerine bowdenii, ein heißer Tipp sowohl für Stauden- als auch Topfgärtner.

Topfpflanze. In zu kalten Gegenden empfiehlt es sich, sie als Topfpflanze zu ziehen und kühl zu überwintern, wobei der Topf eher klein sein sollte, denn Nerinenzwiebeln lieben die Geselligkeit.

Blütenbüschel. Die sind wahrhaft bezaubernd, tiefrosa, dicht, auf eleganten hohen Stielen wippend und auch sehr gut für die Vase geeignet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.11.2017)

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