Heilige Hildegard, heile, heile!

(c) AP (Hasan Jamali)
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Seit heuer ist Hildegard von Bingen offiziell katholische Heilige und Kirchenlehrerin. Sie schrieb über Gott und die Energie der Steine, die Sexualität von Fisch und Mensch. Annäherung an eine weltweite Kultfigur.

Eine unglaubliche Frau. Das ist ziemlich das Einzige, worauf sich ihre Fans vorbehaltlos einigen dürften. Egal, ob sie Bergkristall-„Aufladesteine“ kaufen, nachlesen, was sie über kosmische Strahlen zu sagen hat, Bio-Dinkelbrot „nach Hildegard-Rezept“ verspeisen oder ob sie sie sehen wie der Papst: als große Heilige und Kirchenlehrerin.
Ersteres war sie inoffiziell schon lang, aber die Kanonisierung hat letztlich 833 Jahre gedauert. Heuer im Mai hat ihr Bewunderer Benedikt XVI. Hildegard von Bingen in den Heiligenkalender aufgenommen; am 7. Oktober setzte er noch eins drauf, indem er sie zur Kirchenlehrerin erhob, also in die Riege jener Persönlichkeiten, die besonderen Einfluss auf die Lehre der katholischen Kirche hatten. Erst drei Frauen wurden das bisher: Theresa von Avila, Katharina von Siena und Thérèse von Lisieux.

Fast gespenstische Wirkung

Aber Hildegard von Bingen ist mit keiner von ihnen und mit kaum einem Heiligen überhaupt vergleichbar, wenn es um ihre fast gespenstische Wirkung geht. Zu ihren Lebzeiten war sie es schon einmal, in den letzten Jahrzehnten ist sie erneut zur Kultfigur geworden. Ihr Name darf in keinem Reformladen fehlen; die CD „Vision“ mit zart New-Age-artig verpoppten Hildegard-Gesängen stand 1995 an der Spitze der Charts in England, den USA und Australien. Von den USA bis Asien multiplizieren sich die Hildegard-Kongresse. Als Vorkämpferin der Frauenemanzipation oder frühe Naturwissenschaftlerin wird sie verehrt, als Mystikerin, Dichterin, Seelsorgerin, Komponistin – der Atem geht einem aus bei der Beschreibung dieses Multitalents. Aber wo steckt in alledem die „wirkliche“ Hildegard?

Über die ersten 40 Lebensjahre weiß man kaum etwas. Sie wird 1098 in Rheinland-Pfalz geboren, als Tochter aus gutem Haus, was ihr bei ihrer späteren Karriere hilft. „In meinem dritten Lebensjahr sah ich ein so großes Licht, dass meine Seele erzitterte“, schreibt sie viel später, anderswo setzt sie den Beginn ihrer Visionen mit dem fünften Lebensjahr an.

Visionen in „hellwachem“ Zustand

All das habe sie als angstvoll erlebt und verheimlicht; von Kindheit an habe sie niemals „in Sicherheit gelebt, keine einzige Stunde“. Die Visionen, von denen sie ihr ganzes Leben lang berichtet und die sie niederschreibt, erlebt sie nach eigenen Angaben nicht „im Traum oder Rausch“, sondern hellwach. Mit 14 kommt sie ins Kloster, nach 24 Jahren übernimmt sie als Magistra die Führung der dortigen Schülerinnen, wenige Jahre später beginnt sie um ein eigenes Kloster am verkehrstechnisch günstig gelegenen Rupertsberg zu kämpfen: ein Ziel, das sie nach vielen Widerständen erreicht. Als sie ihr erstes Buch mit Visionen fertigstellt, ist sie 53, nach damaligen Begriffen eine alte Frau. Aber da geht's erst richtig los, in ihren Siebzigern reist sie noch herum und predigt, für eine Frau damals ungeheuerlich, im biblischen Alter von 81 Jahren stirbt sie.

Glaubt man Hildegard von Bingen, hat sie mit mehreren Päpsten Briefe gewechselt, außerdem mit Kaiser Friedrich Barbarossa und mit unzähligen Kirchenfürsten in ganz Europa. Zu viel sollte man ihr allerdings nicht glauben, sie hat Briefe vor ihrer Veröffentlichung unbekümmert manipuliert und etliche erfunden – nichts Ehrenrühriges in einer Zeit, in der Faktentreue keine wichtige Tugend war.
Ihre Korrespondenz war Teil einer entschlossenen Eigenmarketing-Strategie, ohne die sie sich in der Männerwelt des zwölften Jahrhunderts unmöglich hätte behaupten können. Und ihre Visionen? Hätte sie keine gehabt, hätte sie sie erfinden müssen. In einer Welt, in der undenkbar war, dass Frauen die Bibel auslegen, tat sie das Undenkbare. Das war nur möglich, weil sie sich auf göttliche Eingebung berief.

Wissenschaftliche Avantgarde

Als Theologin erscheint Hildegard in ihren drei Visionsbüchern immer wieder als Teil der wissenschaftlichen Avantgarde, sie vertritt eine neue menschenfreundliche Theologie, die Gottes Barmherzigkeit betont. Was sie über die Energie der Steine, des Dinkels oder der Brennnessel zu sagen hat und so viele fasziniert, steht in einem anderen Buch. Es hieß über „die Feinheiten der verschiedenen Naturen der Geschöpfe“ und ist in Form zweier getrennter Bücher, „Heilkunde“ und „Naturkunde“, überliefert.

Wer auf die Weisheit der Autorin vertraut, sollte keine Erdbeeren essen, denn sie „verursachen einen Schleim im Menschen“, wachsen zu nah an der Erde und sogar in fauliger Luft. Achat, vor dem Zubettgehen in Kreuzform durch das Haus getragen, vertreibt Diebe. Über Männer mit starkem Sexualtrieb steht: „Der Geschlechtswind, der sich in den Lenden dieser Männer aufhält, ist mehr feuriger als windiger Natur. Ihm beigegeben sind zwei zeltartige Gebilde, in die er bläst wie in eine Esse.“

Erstaunliche Naturbeobachtung

Aber neben diesen skurril anmutenden Beschreibungen und magischen Praktiken findet man auch ganz anderes: auf unvoreingenommener Beobachtung beruhende erstaunlich „richtige“ Beschreibungen von Naturerscheinungen, vom Lauf der Sonne über das Leben der Fische bis hin zur menschlichen Sexualität. Und hinter alledem stand die Überzeugung von der harmonischen Verflochtenheit aller kosmischen Elemente: „Alles, was in der Ordnung Gottes steht, antwortet einander.“

Aber wie viel Hildegard steckt wirklich in diesem Werk? Man wird es wohl nie wissen, die ältesten überlieferten Handschriften entstanden über 100 Jahre nach ihrem Tod, die erhaltenen Fassungen sind sehr unterschiedlich. Aber ist es schlimm, dass wir die „wahre“ Hildegard nie kennen werden? „Wer nach knapp tausend Jahren noch eine so vielfältige Attraktivität besitzt“, meint Biografin Barbara Beuys, „muss einen glaubwürdigen Kern gehabt haben, ein Charisma und eine Botschaft, die sich nicht verbiegen lassen.“

Der Coup der Hildegard-Medizin

Ein Österreicher steht hinter der Erfindung der sogenannten Hildegard-Medizin, die seit Jahrzehnten populär ist.
1970 begann der in Gastein geborene Arzt Gottfried Hertzka gemeinsam mit einem deutschen Heilpraktiker, Pflanzenpräparate, Edelsteine, Lebensmittel, Kosmetika und andere Hilfsmittel zur „gesunden Lebensführung“ zu vertreiben. Das Ganze nannte er „Hildegard-Medizin“.
Naturheilkunde und rein esoterische Elemente mischen sich dabei. Besonders umstritten ist die Edelsteintherapie.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2012)

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