Schizophrenie: Die Stimmen sind mitten unter uns

Stimmen sind mitten unter
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Psychische Krankheiten gelten nicht mehr als Tabu – bis auf die Schizophrenie. Der Wahn macht allen Angst, Betroffene verheimlichen ihre Probleme. Deutschland setzt auf Früherkennung. Österreich hinkt nach.

Auf einmal waren sie da. Diese seltsamen Stimmen, am Tag und in der Nacht, auf der Straße und in der Wohnung, in der David* allein lebt. Der hochbegabte Mathematikstudent stand kurz vor der Promotion, aber an Lernen war nicht mehr zu denken. „Zuerst haben sie nur beschrieben und kommentiert, was ich gerade getan habe.“ Später warnten die Stimmen davor, „dass mir jemand etwas in das Getränk gibt.“ Fragen quälten ihn: „Woher wissen die, was ich denke?“ David bekam Angst, konnte nicht mehr schlafen. „Ich war verzweifelt, dachte an Selbstmord.“ Beim Fußballschauen mit Freunden im Gasthaus kam der Zusammenbruch. Einlieferung in die Klinik. Und die Diagnose: paranoide Schizophrenie.

Das klingt schlimm, verstörend, gefährlich. Andere psychische Krankheiten haben viel von ihrem Schrecken verloren. Auf die modische Diagnose Burn-out sind manche sogar stolz. Auch zu Depressionen stehen immer mehr Betroffene. Bei Psychosen aber wird es heikel: Dass Menschen sich plötzlich ganz ungewöhnlich verhalten, bleibt unheimlich. Vor allem bei der schwersten Form der Psychose, der Schizophrenie. War nicht der Massenmörder Breivik in Norwegen ein „Schizo“? Und damals die Lafontaine-Attentäterin in Deutschland? So verfestigt sich ein medial geformtes Bild von Menschen, die von einem dämonischen Wahn besessen aus heiterem Himmel zur tödlichen Waffe greifen.

Das macht den Gesunden Angst. Wer betroffen ist, lebt mit dem Stigma, gesteht sich die Krankheit oft lang nicht ein. Jugendliche ignorieren Anzeichen, ziehen sich zurück. Dabei wissen Mediziner längst: Je früher die Krankheit behandelt wird, desto günstiger ist ihr Verlauf und desto höher die Chancen, dass der Patient ein erfülltes Leben leben kann.

Keine Gefahr. Prävention lautet deshalb das Zauberwort unter vielen Psychiatern. Andreas Bechdolf ist so ein Pionier. Als einer der führenden Psychose-Experten Deutschlands half er in Köln mit, ein Früherkennungszentrum aufzubauen. Nun richtet er als Chefarzt am Berliner Vivantes Klinikum am Urban sein eigenes Zentrum ein. Im November ist Eröffnung. Zwölf weitere Unikliniken bieten spezielle Ambulanzen an. Deutschland folgt einem Trend: In Großbritannien und Australien sind alle Ballungszentren mit präventiven Einrichtungen versorgt, Holland und Dänemark bald auch. Österreich hinkt dieser Entwicklung hinterher (siehe Artikel rechts) –auch bei der Öffentlichkeitsarbeit.

„Schizophrene verüben nicht mehr Verbrechen als junge Männer. Unter ihnen zu leben ist nicht gefährlicher als ein Abend in der Kneipe eines Fußballvereins“, klärt Bechdolf auf. Gewalt richten die Patienten fast nur gegen sich selbst: Zehn bis 15 Prozent von ihnen begehen Selbstmord. Die tabuisierte Krankheit ist verbreiteter, als viele denken: Eineinhalb Prozent der Bevölkerung sind zumindest einmal im Leben davon betroffen. Meist bricht sie in der späten Jugend aus, bei Männern im Alter zwischen 15 und 25, bei Frauen im Schnitt fünf Jahre später.

Was der Volksmund unter „schizophren“ versteht, eine gespaltene Persönlichkeit also, ist tatsächlich eine andere Krankheit. Im Mittelpunkt der paranoiden Schizophrenie, der weitaus häufigsten Form, steht der Wahn. Genauer: wahnhaft gesteigerte Wahrnehmungsstörungen. Viele Betroffene fühlen sich von dunklen Mächten verfolgt. In ihren Steckdosen und Handys hat man Wanzen eingebaut, in ihren Wohnungen Kameras. Geheimdienste sind ihnen in schwarzen Wagen auf den Fersen. Ein Eingelieferter ist überzeugt, man habe ihm einen Chip implantiert, und in der Klinik sei er nur, um ihn entfernen zu lassen. Ein anderer glaubt, seine Nachbarin habe ihn unter Hypnose vergewaltigt. Manche können– noch oder wieder – reflektieren, dass sie sich täuschen: „Ich weiß ja, dass das alles Unsinn ist.“ Diese haben gute Chancen auf Besserung. Andere sind ihrem Wahn verfallen. Fast alle schildern ihn glaubwürdig und ohne Aggression. „Meist mag man sie“, bemerkt ein junger Arzt.

Chemie im Kopf. Auch der Zwang von Schizophrenen, jeden Blick und jedes Gespräch auf sich zu beziehen, kann charmante Seiten haben. Nur kurz hat die hübsche Ärztin den Patienten angeschaut. „Lieben Sie mich?“, fragt dieser darauf. Was aber steckt hinter den seltsamen Phänomenen? Es geht um Biochemie im Kopf. Eine Hauptrolle spielt der Neurotransmitter Dopamin, als Botenstoff, der Erregungen von einer Nervenzelle zur nächsten trägt. Wenn der Transport nicht funktioniert, ist die Wahrnehmung gestört. Zu einem guten Teil ist das genetisch bedingt. Die Krankheit verläuft in Phasen. Gegen die „Episoden“, schwere Ausbrüche, helfen nur Neuroleptika mit oft starken Nebenwirkungen – was bei den Gesunden draußen Misstrauen nährt.

Das weiß auch Tobias Hellenschmidt vom Berliner Vivantes Klinikum im Friedrichshain. Der Oberarzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie kommt von der Schwäbischen Alb. „Dort hört man zwischen Kuh und Kirche: ,Die Frau Maier, die war immer so nett. Aber seit man sie zu den Spinnenden nach Winnenden gebracht und mit Medikamenten vollgepumpt hat, ist sie nicht mehr so wie früher.‘ Dabei war es natürlich umgekehrt: Frau Maier wurde so krank, dass sie in die Klinik musste, wo man sie medikamentös nicht völlig heilen konnte. Durch die Fehlinterpretation wird die Psychiatrie zum Hort des Terrors erklärt.“

Den „Episoden“ folgen lange ruhige Phasen mit „negativen“ Symptomen: Der Erkrankte fühlt sich antriebslos und empfindet keine starken Gefühle mehr. Ähnlich verläuft der schleichende Beginn der Krankheit. Und hier setzt die Prävention an.

Angst vor Medikamenten. Marion wusste nicht, was mit ihr los war. Die Kölnerin hatte ihr Pädagogikstudium flott gestartet. Aber von Monat zu Monat fiel es ihr schwerer, sich zu konzentrieren. Beim Denken gelangte sie an kein Ziel, immer kam „etwas dazwischen“. Sie fiel im Studium zurück, schämte sich, traf sich immer seltener mit Freundinnen. „Geheime Mächte“ suchten sie heim, hielten sie davon ab, zu Ende zu studieren. Zum Arzt ging Marion nicht, aus Angst vor der „chemischen Keule“. Bis die Suizidgedanken zu stark wurden – drei Jahre nach den ersten Symptomen. Es hätte besser laufen können, ist Bechdolf überzeugt: „Eine Akutsituation sollte nie der erste Kontakt sein. Hätte ihr Umfeld die Gefahr erkannt, dann hätten wir die Medikamente niedriger dosieren und in Ruhe das Passende finden können.“

Zur Bewältigung der Episode hilft auch eine kognitive Psychotherapie. Dabei hinterfragen Arzt und Patient die wahnhaften Annahmen: Wie oft hat der Bäcker so streng geschaut? Nur einmal? Ist da nicht die Furcht übertrieben, er führe Böses im Schilde?

In sein Präventionszentrum wird Bechdolf Lehrer einladen, Studienberater, Jobvermittler und Sozialarbeiter – Menschen, bei denen man Rat sucht, wenn es in der Schule oder bei der Arbeit nicht funktioniert. Sie sollen Symptome erkennen und den Kontakt zur Ambulanz herstellen. Auch für Eltern und Schulklassen sind Informationsveranstaltungen geplant.

Der Schwerpunkt der Station wird die Bewältigung der ersten Episode. „Viele denken: ,Das war so schlimm, ich trau mir nichts mehr zu, keine Arbeit, keine Mädchen. Ich bin so ein komischer Typ.‘ Dagegen kämpfen wir an“ – mit ambulanten Therapien und vielleicht auch Betreuung zu Hause: Auf dem Sofa redet es sich leichter, und die Familie ist dabei. Auch Hellenschmidt setzt auf Gespräche. Einem Buben in der Pubertät braucht er nicht „pädagogisch-moralisierend“ kommen. Ob er ein Medikament mit bestimmten Nebenwirkungen einsetzt, entscheidet er zusammen mit dem Patienten. Seine Argumente sind dabei „radikal hedonistisch“: „Was bringt es dir, wenn du die Schule abschließen und dich wieder mit deinen Freunden treffen kannst?“

Kiffen als Auslöser. So lief es auch mit dem kleinen Özal. Der Deutsch-Türke war knapp 16, als er im Radio hörte, wie über seine Fehler berichtet wurde. Stimmen wollten ihn steuern, vom Islam abbringen und zu einem bösen Menschen machen. Die Vorgeschichte: Er hatte regelmäßig gekifft. Zwar erkrankt nur schizophren, wer eine Anlage mitbringt. Aber damit die Krankheit ausbricht, müssen Stressfaktoren dazukommen. Als gesichert gilt, dass Cannabis ein solcher Auslöser sein kann. Zumal in einem Alter, in dem das Hirn noch wächst und bei der Versprossung der Nervenzellen Fehlschaltungen möglich sind. Ein halbes Jahr blieb Özal in der Klinik, erst auf das dritte Medikament sprach er an. Nach neun Monaten konnte er in die Schule zurück. Heute ist er 18, immer noch übergewichtig, eine Nebenwirkung des Neuroleptikums. Irgendwann wird er es ganz absetzen. Auch wenn bei über 80 Prozent der Fälle die Symptome nach der ersten Episode ganz zurückgehen: Es kann ihnein nächster Ausbruch ereilen. Aber vorerst kann er seinem Lebensplan weiter folgen.

Darauf hofft auch David. Der Mathematiker will endlich promovieren. Die Stimmen sind noch leise da, aber er versucht, sie zu ignorieren. Er hat, das ist selten genug, den vollen Rückhalt seiner Freunde. Alles, was ihnen an ihm seltsam aufgefallen war, hatten sie aufgeschrieben, um ihm und seinen Ärzten zu helfen. Sie stehen weiter zu ihm. Was immer die Stimmen sagen.

* Alle Namen von der Redaktion geändert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.09.2013)

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