Thomas Czypionka, Gesundheitsexperte vom Institut für Höhere Studien, über die „sehr gut aufgesetzte“ Gesundheitsreform und künftige Herausforderungen.
Die Presse: Die Gesundheitsreform geht ab 2014 in die Umsetzung. Vermissen Sie wichtige Maßnahmen in dem Konzept?
Thomas Czypionka: Die Reform wurde sehr gut aufgesetzt – besser, als alle Versuche davor. Die Verantwortung ist auf Bund, Länder und Kassen verteilt. Das garantiert Stabilität im Reformprozess.
Aber könnte die breit gestreute Verantwortung nicht auch zum Problem werden? Wenn man sich nicht einigt, gerät der Reformprozess ins Stocken.
Natürlich wäre die Finanzierung aus einer Hand, bei der entweder der Staat oder die Sozialversicherung die Steuerungshoheit hat, die beste Lösung gewesen. Aber die Verfassung sieht nun einmal vor, dass die Kassen für den niedergelassenen Bereich und die Länder für die Spitäler zuständig sind.
Man kann die Verfassung auch ändern.
Kann man. Aber realpolitisch ist das sehr schwierig, wie die Vergangenheit gezeigt hat. Stichwort Österreich-Konvent. So gesehen hat man die beste unter den realistischen Möglichkeiten gefunden.
Die Gesundheitsausgaben sind in den vergangenen Jahren stärker gestiegen als das BIP. Können wir uns dieses System überhaupt noch leisten?
Ich sorge mich nicht so sehr um die Ausgaben in den nächsten Jahren, sondern um die Finanzierung ab 2020. Für den demografischen Wandel sind wir noch nicht ausreichend gerüstet.
Was muss der nächste Gesundheitsminister demnach tun?
Die Finanzierung hängt nicht nur von den Gesundheitsausgaben, sondern auch von anderen Rahmenbedingungen ab. Wäre das faktische Pensionsantrittsalter um zwei Jahre höher gewesen, hätten die Krankenkassen nie ein Finanzierungsproblem gehabt. So aber haben ihnen die Beiträge gefehlt. Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik gehen Hand in Hand.
Eines der Reformziele ist es, mehr Patienten von den Spitälern in die Arztpraxen zu bringen. Ist die Behandlung dort wirklich billiger?
Wenn wir auf Primärversorgung umstellen – und auch das ist eines der Ziele –, dann ja.
Können Sie mir ein Beispiel nennen?
Wir haben ausgezeichnete Einrichtungen für die Akutbehandlung nach einem Herzinfarkt. So weit darf es aber gar nicht kommen. Der Patient sollte schon behandelt werden, wenn ein hoher Blutdruck diagnostiziert wird, aber noch keine Schäden entstanden sind.
Wie kann das gelingen?
Wir brauchen ein System, das sich aktiv an den Patienten wendet. Wenn jemand einen hohen Blutdruck hat, sollte es eigentlich die Regel sein, dass der Arzt nach einer gewissen Zeit anruft und sagt: „Kommen Sie vorbei.“ Das ist derzeit eher die Ausnahme.
Wie wollen Sie die Ärzte dazu bringen, sich mehr um die Patienten zu sorgen?
Über die Honorare. Derzeit bekommt der Arzt Geld, wenn der Patient bei der Tür hereinkommt. Die Betreuung ist kein Abrechnungspunkt. Besser wäre es, die Bezahlung so zu steuern, dass sich der Arzt mehr Zeit nimmt.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.09.2013)